Glossar

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Rassenhierarchie im Lager

Für den Einsatz und die Hierarchie der Häftlinge – und somit für ihre Überlebenschancen – spielte die NS-Rassenideologie in den Konzentrationslagern eine wichtige Rolle. Im KZ Buna/Monowitz stieg der Anteil der jüdischen Häftlinge kontinuierlich an, von anfangs etwa 70% bis auf 90–95% der etwa 11.000 Häftlinge Ende 1944. Zwar gab es in der späten Zeit des Lagers auch einige jüdische Funktionshäftlinge, bzw. es wurden manchmal jüdische Häftlinge „arisiert“ und galten forthin als politische Häftlinge, damit sie Funktionen in der Häftlingsverwaltung einnehmen konnten. Doch waren in der Anfangszeit die meisten Funktionshäftlinge im KZ Buna/Monowitz als „kriminell“ oder „asozial“ inhaftierte „Reichsdeutsche“ oder polnische Häftlinge. Die Deutschen hatten die wichtigsten Funktionen in der Häftlingsverwaltung inne, obwohl sie im Januar 1945 nur noch 386 von 9.792 Häftlingen des Lagers zählten; hierzu trug auch die Kenntnis der deutschen Sprache und damit, die Befehle der SS verstehen zu können, bei. Ließ ein „Reichsdeutscher“ sich nichts zuschulden kommen, so war sein Überleben praktisch gesichert.

 

Die größten Häftlingsgruppen nach den Juden waren polnische und russische Häftlinge. Im August 1944, zur Zeit des Warschauer Aufstands, wurden etwa 1.200 Polen nach Buchenwald gebracht, wodurch sich ihr Anteil im KZ Buna/Monowitz stark verringerte. Nicht-jüdische Häftlinge konnten monatlich ein Paket empfangen, welches Lebensmittel und Kleidung enthalten durfte, wovon vor allem polnische Häftlinge profitierten, deren Verwandtschaft näher an Auschwitz lebte und etwas schicken konnte.

 

Im Allgemeinen erwies sich die NS-Rassenideologie, in deren Zentrum die Vernichtung der Juden stand, wichtiger als ökonomische Überlegungen. Nicht-jüdische Häftlinge wurden häufig durch die Politische Abteilung, die für die Zusammenstellung und Sicherheit der Transporte nach Birkenau verantwortlich war, wieder von den Selektionslisten gestrichen. Es schien zunehmend weniger im Interesse der SS zu sein, „reichsdeutsche“ oder polnische Häftlinge zu vergasen, die sie für die Verwaltung des Lagers benötigte. Andererseits wurden zunehmend jüdische Häftlinge selektiert, die noch keine Muselmänner waren. Ab 1943 waren nahezu 100% der Selektierten jüdisch. Die jüdischen Häftlinge waren also dem stärksten Vernichtungsdruck ausgesetzt – nicht nur von Seiten der SS, sondern auch von Seiten der I.G.-Angestellten, da sie auf der Baustelle unter antisemitischen Schikanen, besonders schwerer Arbeit und Misshandlungen durch Meister leiden mussten. Auch in den Dokumenten des Nürnberger Prozesses gegen I.G. Farben sind ausschließlich Strafmeldungen gegen jüdische Häftlinge erhalten.

 

Die jüdischen Häftlinge kamen aus so unterschiedlichen geographischen, kulturellen und sozialen Hintergründen, dass sich kaum ein gemeinsames Interesse geltend machen konnte. Häftlinge aus südlichen Ländern hatten angesichts des polnischen Winters mit Schnee und Kälte zu kämpfen, streng religiöse Juden standen auf Grund der Nahrung und Lebensverhältnisse im Lager vor unlösbaren Entscheidungen. Auch Sprachkenntnisse bestimmten die Gruppenbildung bzw. konnten bei Häftlingen, die des Deutschen nicht mächtig waren, zu Schwierigkeiten führen. Im Lager begegneten sich Juden aus allen sozialen und Bildungsschichten – Arbeiter, Unternehmer, Intellektuelle – und politischen Hintergründen – Zionisten, Kommunisten, Liberale, Konservative. Oft bestimmte die Herkunft auch, wer wem half und helfen konnte, und damit Überlebensstrategien und -chancen. Allen jüdischen Häftlingen gemeinsam war ihre Markierung mit dem gelben Winkel als „jüdisch“, die sie in eine andauernde Todesgefahr brachte. Deshalb befreiten sich manche Häftlinge im Durcheinander des Todesmarsches Anfang 1945 von ihrem gelben Winkel, um nur noch durch einen roten Winkel als „politisch“ gekennzeichnet zu sein und damit ihre Überlebenschancen zu erhöhen.

(MN)



Quellen

Ya’acov (Jack) Handeli, Lebensgeschichtliches Interview [Eng.], 1.8.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.

Freddie Knoller, Lebensgeschichtliches Interview [Eng.], 13.6.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.

Julius Paltiel, Lebensgeschichtliches Interview [Norw.], 7./8.6.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.

[Posener, Curt]: Zur Geschichte des Lagers Auschwitz-Monowitz (BUNA). Unveröffentlichtes Manuskript, undatiert, 53 Seiten. Archiv des Fritz Bauer Instituts.

Ya’acov Silberstein, Lebensgeschichtliches Interview [Hebr.], 29./30.7.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.

 

Literatur

Kleinmann, Fritz: Überleben im KZ. In: Reinhold Gärtner / Fritz Kleinmann (Hg.): Doch der Hund will nicht krepieren… Tagebuchnotizen aus Auschwitz. Thaur: Kulturverlag 1995, S. 34–114.

Setkiewicz, Piotr: Ausgewählte Probleme aus der Geschichte des IG Werkes Auschwitz. In: Hefte von Auschwitz 22 (2002), S. 7–147.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.

White, Joseph Robert: IG Auschwitz: The Primacy of Racial Politics. Dissertation, University of Nebraska at Lincoln, NE, 2000.