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Rezeption des Nürnberger Prozesses gegen I.G. Farben

Im Vorfeld und am Rande des Prozesses äußerten insbesondere Vertreter der Verteidigung Zweifel an der Fairness des Verfahrens, und brachten das Stichwort von der „Siegerjustiz“ zur Untermauerung der „Kollektivschuldthese“[1] ins Gespräch. Obgleich dies als Fehleinschätzung gelten muss (alle Angeklagte hatten frei wählbare Verteidiger und ihnen musste individuelle Verantwortung für die in den Anklagepunkten konstituierten Tatbestände nachgewiesen werden), nimmt dies bereits eine Rezeptionstendenz des gesamten Verfahrens vorweg.

 

Während der Ankläger Josiah DuBois nach der Urteilsverkündung ernüchtert feststellte: „The sentences were light enough to please a chicken thief“[2], waren die Angeklagten (wurden sie nun freigesprochen oder verurteilt) und ihre Verteidiger empört: Fritz ter Meer deutet im Vorwort seiner 1953 erschienen Werksgeschichte die „herbe Kritik – bis zur tendenziösen Verzerrung der Tatsachen“[3] an I.G. Farben an, Carl Wursters Assistenz-Rechtsanwalt Wolfgang Heintzeler veröffentlichte 1987 seine Einschätzung des Verfahrens als „Gericht der Sieger über Besiegte“[4], in dem die I.G. „ins Rampenlicht der Öffentlichkeit und in eine völlig schiefe Situation“[5] geraten sei. Die Angeklagten sahen nicht nur die Fortsetzung ihrer Karrieren gefährdet und sich selbst ungerechterweise an den Pranger gestellt, während alle übrigen Betriebsangehörigen unbehelligt blieben; auch gegenüber Freunden und Familienangehörigen mussten sie sich erklären.

 

Die Industrie befürchtete unmittelbar nach dem Urteil im I.G. Farben-Prozess die tatsächliche Durchführung der amerikanischen Entflechtungspläne und reagierte prompt mit einer vom Essener IHK-Präsidenten Theo Goldschmidt initiierten Kampagne gegen die Nürnberger „Unrechtsjustiz“, ein Motiv das auch in der westdeutschen Presse aufgegriffen wurde: unter dem Titel „Rehabilitierung und Rache“ beschrieb beispielsweise Die Zeit die letzten beiden Nürnberger Industriellenprozesse als Ereignisse, bei denen „am Vorabend eines dritten Weltkriegs Kapitalisten über Kapitalisten und Antikommunisten über Antikommunisten“[6] zu Gericht gesessen hätten. Militärgouverneur Lucius D. Clay erhielt zahlreiche Petitionen um Überprüfung der gesprochenen Urteile.

 

Nicht nur die individuelle Schuldlosigkeit der führenden I.G. Farben-Manager, sondern auch ihr Unverstandensein im eigenen Land beklagte der I.G.-Apologet Jens Ulrich Heine: „Die Tragik der ehemaligen IG-Farben-Persönlichkeiten war und ist es jedoch nicht, vom feindlichen Ausland verleumdet, gedemütigt und durch ein Siegertribunal verurteilt worden zu sein, sondern ähnliches im eigenen Land – vor allem durch die Nachkriegsgeneration – erfahren zu müssen.“[7]

 

Konträr kritisierten linke und linksliberale Medien das Urteil nicht nur als zu milde; es annulliere darüber hinaus die Präambeln mehrerer alliierter Gesetze und Verordnungen zur Entflechtung der I.G. Farben, weil es die Angeklagten von einer Mitverantwortung für den Kriegskurs der NS-Diktatur freigesprochen hatte. Die spätestens 1951 aus den alliierten Gefängnissen entlassenen Manager der I.G. Farben wurden in der Nachkriegszeit zumeist rasch in die Aufsichts- und Leitungsgremien der chemischen Industrie reintegriert.

(SP)



Download

[pdf] Annette Weinke_Hintergruende der justiziellen Aufarbeitung des KZ BunaMonowitz Moeglichkeiten Probleme und Grenzen

[pdf] Karl_Heinz_Roth_Case_VI_Der_Nuernberger_Prozess_gegen_IG_Farben

 

Materialien 

[pdf] Urteile_Nuernberger IG Farben Prozess 

 

Literatur

Dubois, Josiah E.: The Devil’s Chemists. Boston: Beacon Press 1952.

Heine, Jens Ulrich: Verstand & Schicksal. Die Männer der I.G. Farbenindustrie A.G. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft 1990.

Heintzeler, Wolfgang: Was war mit IG Farben? Der Nürnberger Prozess und der Fernsehfilm ‚Väter und Söhne‘. Herford: BusseSeewald 1987.

Rehabilitierung und Rache. In: Die Zeit, 12.8.1948, http://www.zeit.de/1948/33/Rehabilitierung-und-Rache (Zugriff 18.10.2008).

Ter Meer, Fritz: Die IG Farben Industrie Aktiengesellschaft. Ihre Entstehung, Entwicklung, Bedeutung. Düsseldorf: Econ 1953. 

[1] Diese Einstellung vertrat noch knapp 40 Jahre später der Anwalt Carl Wursters, vgl. Wolfgang Heintzeler: Was war mit IG Farben? Der Nürnberger Prozess und der Fernsehfilm ‚Väter und Söhne‘. Herford: BusseSeewald 1987, S. 16.

[2] Josiah E. DuBois: The Devil’s Chemists. Boston: Beacon Press 1952, S. 339.

[3] Fritz ter Meer: Die IG Farbenindustrie Aktiengesellschaft. Ihre Entstehung, Entwicklung, und Bedeutung. Düsseldorf: Econ 1953, S. 7.

[4] Heintzeler: Was war, S. 31.

[5] Heintzeler: Was war, S. 35.

[6] Rehabilitierung und Rache. In: Die Zeit, 12. August 1948, http://www.zeit.de/1948/33/Rehabilitierung-und-Rache (Zugriff am 18.10.2008).

[7] Jens Ulrich Heine: Verstand & Schicksal. Die Männer der I.G. Farbenindustrie A.G. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft 1990, S. 295.