Glossar

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Theater als Form der Zeugenschaft von Buna/Monowitz

Im deutschsprachigen Nachkriegstheater spielt der Zweite Weltkrieg zwar gerade in theatergeschichtlich bemerkenswerten Arbeiten immer wieder eine wichtige Rolle, doch findet die nationalsozialistische Judenvernichtung bzw. Auschwitz häufig nur am Rande Erwähnung. Eher noch wird die Ermordung Kriegsgefangener zum ethischen Problem, wie in Hansjörg Schmitthenner: Ein jeder von uns (UA Deutsches Theater Berlin 1947, R: Wolfgang Langhoff), oder die Judenvernichtung verschwindet hinter Nachkriegsfragen der Schuldübernahme/Schuldverweigerung gepaart mit Ressentiments gegen Entschädigungspolitik und NS-Strafverfolgung, wie in Martin Walser: Der schwarze Schwan (UA Staatstheater Stuttgart 1974, R: Peter Palitzsch), oder sie wirkt als Echo nach in der Gegenwart, wie in Thomas Bernhard: Heldenplatz (UA Burgtheater Wien 1988, R: Claus Peymann). Direktes Thema wurde die NS-Judenverfolgung und -vernichtung nur in wenigen, oft umstrittenen Theaterarbeiten, z.B. in Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter (UA Freie Volksbühne Berlin 1963, R: Erwin Piscator) bzw. Heinar Kipphardt: Joel Brand (UA Münchner Kammerspiele 1965, R: August Everding), oder in Inszenierungen israelischer Stücke über die Shoah, so Peter Zadeks Inszenierung von Joshua Sobols Ghetto (גטו) an der Freien Volksbühne Berlin 1984.

 

Nur zwei deutschsprachige Theaterarbeiten stehen dabei in Bezug zum KZ Buna/Monowitz bzw. zu I.G. Auschwitz: Peter Weiss Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen (Ringuraufführung Oktober 1965) und Katharina Schlenders Der Elektriker. Die Geschichte des David Salz (UA Hans Otto Theater Potsdam 2006, R: Uwe Eric Laufenberg). Interessanterweise räumen gerade diese beiden Theatertexte der Figur des Überlebenden als Zeugen der Geschehnisse in Auschwitz eine zentrale Rolle ein. Das Theater erscheint so als ein Ort, an dem ein Publikum Zeuge der Zeugenschaft wird, in einem gemeinsamen Erleben von historischen Geschehnissen – in diesem Fall Auschwitz – berichtet bekommt, während die gewählte Form des Berichts mittels der Figur eines Zeugen oder mehrerer Zeug/innen den Wahrheitsgehalt der Darstellung und damit die historische Bedeutung des Dargestellten verstärken soll.

 

„Theatre about historical events generally focuses on a character with knowledge (sometimes even too much knowledge), where the victimized survivor is given the position of the witness. This witness is able to tell the spectators something about the experiences previously hidden behind the ‘veils’ of his or her past and now, through the performance, revealed to the spectators. The cathartic processes activated by the theatre performing history are more like a ‘ritual’ of resurrection, a revival of past suffering, where the victim is given the power to speak about the past again.“[1]

 

Den Erzählungen der Opfer von Auschwitz, die in der Zeit ihrer Verfolgung sprachlos waren – in dem Sinn, dass ihre Äußerungen kein Gehör fanden, nicht wirksam wurden – versuchen die beiden Theatertexte auf sehr unterschiedliche Art einen öffentlichen Raum zu geben, in dem, schon dadurch, dass sie zu Gehör gebracht werden, etwas in der öffentlichen Wahrnehmung der Geschichte verändert werden soll. Beide Stücke eignen sich die Berichte eines oder mehrerer Zeugen und damit einen Effekt der Authentifizierung dessen an, was die Theatertexte erzählen, auch da, wo dies nicht den Berichten des/der Überlebenden folgt, sondern diese im Sinne eigener Interpretationen auswählt und ihre Präsentation gestaltet. Während Die Ermittlung die Erinnerungen der Überlebenden, wie sie die Zeugen des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses äußerten, zu einem geschlossenen Bericht zu verdichten sucht, entwickelt Der Elektriker seine Geschichte aus dem Einzelschicksal des David Salz.

(MN)



Literatur

Rokem, Freddie: Performing History. Theatrical Representations of the Past in Contemporary Theatre. Iowa City: Univ. of Iowa Press 2000.

Schlender, Katharina: Der Elektriker – Die Geschichte des David Salz. Szenische Collage. Hamburg: Whale Songs Communications 2006, unveröffentlichtes Manuskript.

Weiss, Peter: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen [1965]. Mit einer DVD des Fernsehspiels (NDR 1966, R: Peter Schulze-Rohr). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

[1] Freddie Rokem: Performing History. Theatrical Representations of the Past in Contemporary Theatre. Iowa City: Univ. of Iowa Press 2000, S. 205.