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Zyklon B – ein Schädlingsbekämpfungsmittel wird zum Mordwerkzeug

Zyklon B-Dosen'© National Archives, Washington, DC
Zyklon B-Dosen
© National Archives, Washington, DC

Unter dem Namen Zyklon B wurde von der „Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung mbH“ (Degesch), heute Detia Degesch GmbH, ein Schädlingsbekämpfungsmittel aus Cyanwasserstoff (HCN), vertrieben, das auf einen porösen Trägerstoff (Kieselgur) aufgebracht und in Metalldosen luftdicht verpackt wurde. Über die Atmung oder durch die Haut aufgenommen, blockiert der geruchlose Cyanwasserstoff (umgangssprachlich auch Blausäuregas genannt) beim Menschen die Zellatmung und führt innerhalb kurzer Zeit zu einem qualvollen Erstickungstod. In den deutschen Konzentrationslagern Mauthausen, Neuengamme, Stutthof und Ravensbrück und in den Vernichtungslagern Auschwitz-Birkenau und Majdanek wurden weit über eine Million Menschen, im Todeslager Auschwitz-Birkenau in ihrer überwiegenden Mehrzahl Juden, von der SS mit Zyklon B in Gaskammern ermordet.

 

Als Schädlingsbekämpfungsmittel wurde Cyanwasserstoff seit den 1880er Jahren in der Landwirtschaft von kalifornischen Orangenbauern benutzt. Versuche, Blausäuregas im Ersten Weltkrieg (Juli 1917) als chemisches Massenvernichtungsmittel an der Front einzusetzen, erwiesen sich für die französische Armee militärisch als Fehlschlag. Das Blausäuregas aus Granaten verflüchtigte sich zu schnell, um eine tödliche Wirkung zu erzielen. In Deutschland wurde der mögliche Einsatz von Cyanwasserstoff als Schädlingsbekämpfungsmittel im Kontext der Chemiewaffenforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie wissenschaftlich untersucht. Unter der Leitung von Fritz Haber wurde 1917 der Technische Ausschuss für Schädlingsbekämpfung (TASCH) gegründet, der das giftige Gas wirkungsvoll in zahlreichen Mühlen und Silos sowie zur Begasung von verlauster Kleidung verwendete. Hierbei kam in geschlossenen Räumen das sogenannte Bottichverfahren zum Einsatz, bei dem wegen der gefährlichen Handhabung des Giftgases geschultes Personal, das mit Schutzanzügen und Sauerstoffmasken ausgerüstet war, Natriumcyanid in einen Bottich gab, der verdünnte Schwefelsäure enthielt. Bei der chemischen Reaktion entstand u.a. gasförmiger Cyanwasserstoff.

 

Um Cyanwasserstoff auch nach dem Ersten Weltkrieg zivil weiter zu nutzen, wurde 1919, u.a. mit Unterstützung der BASF und der Degussa, das Unternehmen Degesch gegründet. 1920 erhielt die Degesch unter dem Markennamen „Zyklon“ ein Patent für ein nicht-flüchtiges chemisches Derivat, das wegen seiner Gefährlichkeit für den Einsatz in der Landwirtschaft mit einem Geruchswarnstoff (Bromessigmethylester) versehen wurde. 1922 übernahm die Degussa AG die Degesch. Nachdem bereits 1922 als saugfähige Trägermasse Kieselgur eingeführt worden war, wurde 1924 ein neues Rezept für Warnstoff, Trägerstoff und Stabilisator unter dem Markennamen Zyklon B patentiert. Das Geschäftskapital der Degesch wurde 1930 auf 100.000 RM erhöht. An dem Unternehmen waren nun die Degussa AG und die I.G. Farbenindustrie AG zu jeweils 42,5 Prozent sowie die Theo Goldschmidt AG Essen zu 15 Prozent beteiligt. Im Verwaltungsrat der Degesch stellten die I.G. Farben drei der sieben Mitglieder. Im Zweiten Weltkrieg stieg der Verkauf von Zyklon B stark an und wurde zu einem lukrativen Geschäft. Die Wehrmacht wurde zum Hauptabnehmer. Aber auch die Polizei, der Reichsarbeitsdienst, Krankenhausverwaltungen und die SS verwendeten Zyklon B zur Entwesung von Kasernen, Schiffen, Güterwaggons, Lagerräumen, Mühlen und Krankenhäusern und zur Begasung von Kleidern in speziell hierzu entwickelten Kreislaufkammern (Entlausungsanlagen). Ein verhältnismäßig geringer Teil der Zyklon B-Produktion wurde in die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager geliefert. Hergestellt wurde das Giftgas in den Dessauer Werken für Zucker und Chemische Industrie und in den Kaliwerken A.G. (Kolin bei Prag). Vertrieben haben das Gas die Firmen Heerdt und Lingler GmbH (HELI) und Tesch und Stabenow (TESTA).

 

Anfang September 1941 führte die SS in Auschwitz I (Stammlager) Versuche durch, das Giftgas Zyklon B zur Massenvernichtung von Menschen einzusetzen. Die Opfer waren 600 sowjetische Kriegsgefangene und 250 kranke Häftlinge. In einem zum Krematorium gehörenden, als „Leichenhalle“ bezeichneten Raum des Stammlagers, wurde die erste Gaskammer eingerichtet. In Auschwitz-Birkenau dienten ab Januar bzw. Juni 1942 zunächst zwei umgebaute Bauernhütten (bezeichnet als Bunker 1 und 2) der Vergasung von nach Auschwitz deportierten Juden und Jüdinnen und von Häftlingen, bevor zwischen März und Juni 1943 unter Beteiligung der Erfurter Firma Topf & Söhne vier große Krematorien in Birkenau in Betrieb genommen wurden. Sie waren zum Teil mit unterirdisch gelegenen Auskleideräumen und als Duschräumen getarnten Gaskammern ausgestattet, in welche die SS jeweils rund 2.000 Häftlinge trieb. Um die Täuschung der Opfer aufrechtzuerhalten und die Massenmorde möglichst effizient durchführen zu können, veranlasste die SS die Lieferfirmen dazu, Zyklon B ohne Geruchswarnstoff zu liefern.

 

Auch in den Konzentrationslagern Mauthausen, Neuengamme, Stutthof und Ravensbrück sowie im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek verwendete die SS Zyklon B für die Massenmorde in den Gaskammern. Im KZ Natzweiler wurde nicht Zyklon B, sondern wahrscheinlich salzförmiges Kalium-Cyanid verwendet, das unter Zugabe von Wasser zu Cyanwasserstoff reagiert. Im KZ Sachsenhausen wurde ebenfalls nicht Zyklon B, sondern Blausäure in flüssiger Form zur Ermordung in der Gaskammer („Station Z“) verwendet.

 

Nach Kriegsende wurden einige Mitarbeiter der Firmen, die Zyklon B an die SS in den Konzentrationslagern geliefert hatten,in mehreren Strafprozessen vor Gericht gestellt. Zyklon B wurde nach 1945 weiter produziert und vertrieben, in der DDR unter dem Namen „Cyanol“, in der BRD als „Cyanosil“.

(FS)



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[pdf] Karl_Heinz_Roth_Die_IG_Farben_Industrie_AG_im_Zweiten_Weltkrieg

 

Quellen

Law Reports of Trials of War Criminals. Selected and prepared by the United Nations War Crimes Commission. Vol. 1. London: HMSO 1947 [darin Auszüge aus Akten des Verfahrens: Case No. 9: The Zyklon-B Case, Trial of Bruno Tesch and Two Others, S. 93–103].

Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, reel 045, ADB 82 (e) und ADB 83 (e).

 

Literatur

Ebbinghaus, Angelika: Der Prozeß gegen Tesch & Stabenow. Von der Schädlingsbekämpfung zum Holocaust. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 13 (1998), H. 2, S. 16–71.

Hayes, Peter: Die Degussa im Dritten Reich. Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft. München: Beck 2004.

Haber, Ludwig F.: The Poisonous Cloud. Chemical Warfare in the First World War.Oxford: Clarendon 1986.

Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt am Main: Fischer 1990.

Joly, Hervé: L'implication de l'industrie chimique allemande dans le Shoah: Le cas de Zyklon B. In: Revue d'histoire moderne et contemporaine 47 (2000), H. 2, S. 368–400.

Kalthoff, Jürgen / Werner, Martin: Die Händler des Zyklon B. Tesch & Stabenow; eine Firmengeschichte zwischen Hamburg und Auschwitz. Hamburg: VSA 1999.

Kogon, Eugen / Langbein, Hermann / Rückerl, Adalbert (Hg.): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main: Fischer 1986.

Szöllösi-Janze, Margit: Von der Mehlmotte zum Holocaust. Fritz Haber und die chemische Schädlingsbekämpfung während und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Jürgen Kocka (Hg.): Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag. München: Saur 1994, S. 658–682.

Das Urteil im I.G.-Farben-Prozess. Der vollständige Wortlaut. Offenbach am Main: Bollwerk 1948.

Weindling, Paul: Epidemics and Genocide in Eastern Europe, 1890–1945. Oxford/New York: Oxford UP 2000.