Glossar

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Auflösung und Demontage der I.G. Auschwitz, Weiternutzung der Fabrik

Im Sommer 1944 begann die Werksleitung der I.G. Auschwitz, die Evakuierung der Belegschaft und „die Raeumung, Laehmung und Zerstoerung des Werkes“[1] im Falle einer bevorstehenden Einnahme durch die Rote Armee zu planen. Die Vorbereitungen wurden um die Jahreswende 1944 abgeschlossen. Im November 1944 unterstützte die Werksleitung die Aufstellung eines Bataillons des Deutschen Volkssturms mit 350 Mann der I.G.-Belegschaft, die durch ein zweites Aufgebot aus Männern des Werkschutzes und der Alarmkompagnie im Januar 1945 aufgestockt und mit 16 Maschinengewehren und 600 Gewehren bewaffnet wurden.

 

Währenddessen liefen die Aufbau- und Montagearbeiten an den Werksanlagen unverändert weiter. Die Einnahme des Werks durch Truppen der Roten Armee im Januar 1945 verhinderte die für Februar 1945 geplante Aufnahme der Buna-Produktion der I.G. Auschwitz. Im Gegensatz zur synthetischen Kautschukproduktion war die Großproduktion von Methanol im Oktober 1943 angefahren worden. Methanol diente als Treibstoffzusatz, als wichtiges Grundprodukt der organischen Chemie sowie als Lösungs-, Extrahier- und Methylierungsmittel, wie auch auf vielfältige Weise zur katalytischen Oxidation in der Kunststoffproduktion. Allein 1944 erzeugte die I.G. Auschwitz insgesamt 28.998 t Methanol, was etwa 15% der deutschen Jahresproduktion von 1944 entsprach. Die Methanolproduktion der I.G. Auschwitz war somit von großer Bedeutung für die deutsche Kriegswirtschaft, deren Treibstoffproduktion infolge der strategischen Luftangriffe der Alliierten 1943/44 beträchtliche Produktionsausfälle zu verzeichnen hatte.

 

Die Luftangriffe der alliierten Bomberflotten auf die I.G. Auschwitz zielten auf die Zerstörung der kriegsverlängernden Produktion dort. Die Luftangriffe am 13. September, am 18. und 26. Dezember 1944 sowie zuletzt am 19. Januar 1945, einen Tag nach der Räumung des KZ Buna/Monowitz, verursachten erhebliche Schäden und banden Ressourcen für aufwendige Reparaturarbeiten an den beschädigten Produktionsanlagen. Bis zuletzt verfolgte die Werksleitung mit allen Kräften das Ziel, die Produktion beschädigter Werksteile wieder rasch instand zu setzen und neue Werksteile erstmals in Betrieb zu nehmen. In der letzten Woche vor der Einnahme des Werks durch die Rote Armee waren die Schwelerei und die Karbidfabrik wieder in Betrieb. Die Produktion von Acetaldehyd war „im Wiederanfahren“ befindlich. Da auch die Zwischenprodukte „anfahrbereit“ waren, rechnete der Werksleiter Walther Dürrfeld mit einer „endgueltigen Aufnahme der Buna-Fabrikation“ nach „geringe[n] Restarbeiten“ in „ca. zwei bis drei Wochen“.[2]

 

Am 16. Januar 1945 erfolgte ein Luftangriff der Roten Armee auf das Werk. Am folgenden Morgen wurde die „nicht arbeitsgebundene“ Zivilbevölkerung evakuiert. Dürrfeld ließ das Werksgelände durch Einheiten der Polizei und des Werkschutzes absperren, um zu verhindern, dass die nicht zur I.G. Farbenindustrie gehörenden Montage- und Baufirmen ihr Gerät abziehen konnten. Teile der ausländischen Belegschaft und der „Volksdeutschen“ ergriffen die Flucht. Am 18. Januar 1945 erließ die Gestapo Schießbefehl gegen Flüchtende, da Polizei und Volkssturm die Massenflucht nicht verhindern konnten. Während die britischen Kriegsgefangenenweiterhin auf der Werksbaustelle arbeiten mussten, rückten die Häftlinge des KZ Buna/Monowitz erstmals nicht zur Arbeit aus, am Abend des 18. Januar wurden sie von der SS auf den Todesmarsch nach Gleiwitz getrieben. Am 20. Januar leitete die Werksleitung mit dem Ausbau von Schlüsselkomponenten die „Lähmung“ des Werkes ein. Auf eine Zerstörung der Werksanlagen verzichtete die Werksleitung, vermutlich in der Hoffnung, nach einer deutschen Gegenoffensive das Werk wieder unter deutsche Kontrolle bringen zu können. Am 21. Januar wurde die Belegschaft der I.G. Auschwitz überstürzt evakuiert, das Werk geräumt und geschlossen. An den beiden folgenden Tagen wurden geheime Unterlagen und wichtige Güter auf Lastwagen und mit der Eisenbahn abtransportiert. Am 27. Januar übernahm die Rote Armee das Werksgelände.

 

Nach der Räumung richtete die deutsche Werksleitung der I.G. Auschwitz im Westen mehrere Abwicklungsstellen ein, um die zurückströmende Belegschaft aufzufangen, und, um die Forderungen zahlreicher Gläubiger aus der Baubranche zu begleichen. So war in Heidenau, Sachsen, zunächst ein „Arbeitsstab S[ynthese]“ für die Abwicklung des Treibstoffwerks der I.G. Auschwitz zuständig, der ab April 1945 im Hitlerjugendheim Königstein in Sachsen untergebracht war. Daneben existierte in Pirna eine weitere Auffangstelle, in der ca. 1.000 ehemaligen Mitarbeiter/innen aufgenommen wurden. Die finanzielle Abwicklung der I.G. Auschwitz zog sich noch lange hin und wurde sowohl von der BASF in Ludwigshafen, aus der die überwiegende Zahl der deutschen Zivilarbeiter/innen der I.G. Auschwitz stammte, als auch von der 1953 gegründeten I.G. Farbenindustrie in Liquidation über Jahre fortgesetzt. In Auschwitz (Oświęcim) wurden von der Roten Armee 1945 Teile des Werkes demontiert und in einem Kombinat zur Kolehydrierung in Kemerowo in einem westsibirischen Industriezentrum der UdSSR wieder aufgebaut. Die verbliebenen Werksteile der I.G. Auschwitz wurden, größtenteils mit unveränderten Werksanlagen, als das größte chemische Kombinat der Volksrepublik Polen u.a. zur Kunststoffproduktion bis in die 1980er Jahre genutzt. 

(FS)



Quellen

Karl Braus, Eidesstattliche Erklärung, 10.12.1947, Bü-171. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, Bütefisch VDB 1 (d), Bl. 86–87.

Walther Dürrfeld, Bericht über die Kriegsereignisse in und um Werk Auschwitz vom 13. Januar bis 24. Januar 1945, Pirna, den 7.2.1945, NI-11956. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 79 (d), Bl. 70–92, sowie Prosecution Exhibit 1527, reel 029, Bl. 1259–1267.

Die Produktionsentwicklung auf den wichtigsten Gebieten der chemischen Erzeugung. Stand 1. März 1945 nach Ausfall der Industrie in O.S. und in Auswirkung der schweren Luftangriffe auf Produktionsstätten und Verkehr. Bundesarchiv Berlin, R 3112/36, Bl. 5.

 

Literatur

Birkenfeld, Wolfgang: Der synthetische Treibstoff 1933–1945. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Wirtschafts- und Rüstungspolitik. Göttingen/Berlin/Frankfurt am Main: Musterschmidt 1964.

Gilbert, Martin: Auschwitz und die Alliierten. München: Beck 1982.

Plumpe, Gottfried: Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945. Berlin: Duncker & Humblot 1990.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.

[1] Walther Dürrfeld, Bericht über die Kriegsereignisse in und um Werk Auschwitz vom 13. Januar bis 24. Januar 1945, Pirna, den 7.2.1945, NI-11956. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 79 (d), Bl. 70–92, hier Bl. 71.

[2] Dürrfeld, Bericht, Bl. 74.