Die ‚Entflechtung‘ der I.G. Farben nach 1945
(W[erner]-O[tto] Reichelt: Das Erbe der IG Farben. Unter Mitwirkung von Manfred Zapp mit einer Einleitung von Dr. Franz Reuter. Düsseldorf: Econ 1956, S. 74.)
Nachdem eine gemeinsame Militärverwaltung Deutschlands durch die Alliierten gescheitert war, wurde in den westlichen Besatzungszonen um die Jahreswende 1948/49 mit der ‚Entflechtung‘ des I.G.-Konzerns begonnen. Dies geschah in Absprache mit deutschen Experten, von denen die meisten selbst zum Management der I.G. gehört hatten oder anderweitig mit dem Unternehmen verbunden waren.
Bereits am 12. Februar 1947 waren in der von den USA und Großbritannien gebildeten vereinigten Besatzungszone (Bizone) zwei Verordnungen über das „Verbot der übermäßigen Konzentration deutscher Wirtschaftskraft“[1] erlassen worden, die jedoch keine Dezentralisierung wirtschaftlicher Macht, sondern höchstens eine Dekartellisierung ermöglichten. Zur Kontrolle der I.G. Farben wurde in der Bizone das Bipartite IG Farben Control Office (BIFCO) geschaffen, dem ein Gremium deutscher Experten, das Bizonal IG Farben Dispersal Panel (FARDIP), bei den Dekartellisierungsmaßnahmen beratend zur Seite stand. Damit waren Angehörige der NS-Wirtschaftselite von der britischen und amerikanischen Militärregierung als gleichberechtigte Partner bei der Entscheidungsfindung über die Zukunft der I.G. Farben anerkannt worden.
FARDIP-Vorsitzender wurde der ehemalige „Wehrwirtschaftsführer“ Gustav Brecht. Ein weiteres der fünf FARDIP-Mitglieder war Oskar Löhr, ein vormaliger I.G.-Direktor, der u.a. mit der Übernahme der Chemieindustrie im besetzten Frankreich befasst gewesen war. Hauptinteresse von FARDIP war die Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit der westdeutschen Chemieindustrie und zu diesem Zweck ein möglichst weitgehender Erhalt der Rationalisierung, die durch den Zusammenschluss vieler Einzelunternehmen in der I.G. erreicht worden war. Ihr Ziel war also, die Dekartellisierungsbemühungen der BIFCO, nach der Entsendung eines französischen Vertreters der Tripartite IG Farben Control Group (TRIFCOG), so zu lenken, dass die I.G. in möglichst wenige Einzelunternehmen entflochten werde. Am 29. Juni 1950 empfahl FARDIP, drei große Nachfolgegesellschaften entsprechend den Betriebsgemeinschaften der alten I.G. zu bilden: Niederrhein (Bayer mit Werken in Leverkusen, Uerdingen, Elberfeld und Dormagen), Maingau (Hoechst mit der Chemischen Fabrik Griesheim, der Naphtol-Chemie Offenbach, der Kunstseidefabrik Bobingen, Cassella und Knapsack) und Ludwigshafen, vormals Oberrhein (BASF). Daneben sollten mehrere ‚Independent Units‘ entstehen. Die anfänglichen Pläne der BIFCO waren noch von 50 ‚Independent Units‘ ausgegangen.
Am 17. August 1950 verkündete der US-Hochkommissar John McCloy das Gesetz Nr. 35 über die „Aufspaltung des Vermögens der IG Farbenindustrie AG“, das erstmals festlegte, dass die zu schaffenden Einzelunternehmen lebens- und konkurrenzfähig sein müssten und Aktionäre ihre I.G.-Aktien gegen Aktien der Nachfolgegesellschaften würden tauschen können. Dennoch war die deutsche Wirtschaftselite über diese neuerliche Demonstration eines alliierten Verfügungsanspruchs über I.G. Farben empört und kritisierte das Gesetz scharf.
Am 18. Januar 1952 wurden deutschem Aktienrecht entsprechend Liquidatoren für die I.G. Farben bestellt: Fritz Brinckmann, Franz Reuter und Walter Schmidt, die sich daran machten, die FARDIP-Forderungen weiter durchzusetzen. Am 23. Mai 1952 erließ die Alliierte Hohe Kommission eine Erste Durchführungsverordnung zum Gesetz Nr. 35, die die Gründung von zwölf formal selbständigen I.G.-Nachfolgeunternehmen vorsah. Am 20. Juni 1952 wurde das Verbot des Handels mit I.G.-Aktien aufgehoben. Währenddessen forcierten die I.G.-Liquidatoren ‚Umgruppierungen‘ in den avisierten Nachfolgeunternehmen, bis schließlich nur noch vier übrig blieben, die gemäß ihrer jeweiligen Betriebsgröße mit Kapital ausgestattet wurden: Bayer erhielt 387,7 Millionen DM, BASF 340,1 Millionen DM, Hoechst 285,7 Millionen DM und Cassella 34,1 Millionen DM. Damit wurde den I.G.-Nachfolgern ein Reinvermögen von 1,64 Milliarden DM übertragen; das entsprach 90 Prozent des „Westvermögens“ der I.G.
Am 1. Oktober 1953 begann „eine der größten Wertpapiertransaktionen, die überhaupt jemals in Deutschland durchgeführt worden sind“[2]: Die Anteilseigner erhielten für eine I.G.-Aktie im Nennwert von 1.000 RM: Bayer-Aktien im Wert von 285 DM, BASF-Aktien im Wert von 250 DM, Hoechst-Aktien im Wert von 210 DM und Cassella-Aktien im Wert von 25 DM. Dazu kam ein „Liquidationsanteilschein“, der den Anspruch der Aktionäre auf Ausschüttung des zu erwartenden „verbleibenden Abwicklungsüberschuss[es]“[3] der I.G. Farben in Liquidation ausdrückte. Er lautete weiterhin in Reichsmark; seinen Wert bezifferte Werner-Otto Reichelt auf 145 DM.[4] Damit hatten die I.G.-Aktionäre für jede I.G.-Aktie im Wert von 1.000 RM Nachfolgepapiere im Wert von insgesamt 915 DM erhalten, was einem Umtauschverhältnis von 10 zu 9,15 entsprach – Sparguthaben waren im Zuge der Währungsreform 1948 im Verhältnis 10 zu 1 von Reichsmark auf D-Mark umgestellt worden.
Am 21. Januar 1955 erließ die Alliierte Hohe Kommission im Einvernehmen mit der Bundesregierung das ‚I.G.-Liquidationsschlussgesetz‘[5]. Es ersetzte das Gesetz Nr. 35 und annullierte, wie von Seiten der I.G. Farben in Liquidation positiv vermerkt wurde, „insbesondere dessen Artikel 10, der den erneuten Zusammenschluss der Nachfolgegesellschaften und die Übernahme der im Nürnberger Prozess verurteilten früheren Leiter der IG in führende Stellungen der Nachfolgegesellschaften verbot“[6].
(MN/PEH)