Elie Wiesel (*1928)
Diese Nachricht gab mir zu denken. Sollte die SS sich damit einverstanden erklären, dass einige hundert Häftlinge sich in den Lazarettblocks bereitmachten und seelenruhig die Ankunft ihrer Befreier erwarteten? Würden sie irgendeinem Juden erlauben, die dreizehnte Stunde abzuwarten? Sicherlich nicht.
‚Man wird alle Kranken schonungslos erledigen‘, sagte der Gesichtslose, ‚und sie mit dem letzten Schub in die Gaskammer spedieren.‘
‚Sicherlich ist das Lager unterminiert‘, warf ein anderer ein. ‚Unmittelbar nach der Evakuierung wird alles in die Luft fliegen.‘
Ich selbst dachte nicht an den Tod, wollte mich jedoch nicht von meinem Vater trennen lassen. Wir hatten schon soviel gemeinsam gelitten und ertragen: es war nicht mehr der Augenblick, uns trennen zu lassen.
Ich lief hinaus, um ihn zu suchen. Der Schnee lag dicht, die Fenster der Blocks waren bereift. Einen Stiefel in der Hand, denn ich konnte den rechten Stiefel nicht anziehen, lief ich und fühlte weder Schmerz noch Kälte.
‚Was geschieht nun?‘
Mein Vater antwortete nicht.
‚Was wird geschehen, Vater?‘
Er war in Gedanken versunken. Die Wahl lag in unseren Händen. Zum ersten Mal konnten wir unser Los selbst entscheiden. Wir konnten alle beide im Lazarett bleiben, wo ich ihn dank meines Arztes als Kranken oder Krankenwärter einführen konnte. Wir konnten auch mit den anderen gehen.
Ich war entschlossen, meinen Vater auf jeden Fall zu begleiten.
‚Was geschieht nun, Vater?‘
Er schwieg.
‚Wir wollen uns mit den anderen evakuieren lassen‘, sagte ich.
Er antwortete nicht und blickte nur auf meinen Fuß.
‚Glaubst du, dass du marschieren kannst?‘
‚Ich glaub schon.‘
‚Hoffentlich bereuen wir es nicht, Elieser.‘“
(Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis. Freiburg: Herder 1996, S. 115–117.)
Lorsque, au lendemain de la victoire, les rescapés découvrirent la trahison, les tromperies abjectes, il y en eut, et parmi eux des enfants, qui se laissèrent glisser vers la mort. La vie au sein d’une société à ce point hypocrite les dégoûtait. Ils ne tenaient plus à y participer.“
(Elie Wiesel: Plaidoyer pour les survivants. In: Ders.: Un juif aujourd’hui. Paris: Seuil 1977, S. 173–203, hier S. 185.)
(http://www.eliewieselfoundation.org/aboutus.aspx (Zugriff am 9.9.2008).)
(Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 380.)
„For me literature must have an ethical dimension. The aim of the literature I call testimony is to disturb. I disturb the believer because I dare to put questions to God, the source of all faith. I disturb the miscreant because, despite my doubts and questions, I refuse to break with the religious and mystical universe that has shaped my own. Most of all, I disturb those who are comfortably settled within a system—be it political, psychological, or theological. If I have learned anything in my life, it is to distrust intellectual comfort.“[1]
Elie (Eliezer) Wiesel wurde am 30. September 1928 als einziger Sohn von Shlomo und Sarah (geb. Feig) Wiesel in Sighet, Rumänien, geboren. Er hatte zwei ältere Schwestern, Hilda und Beatrice (Bea), und eine jüngere, Tzipora. Sein Großvater, Reb Dodye Feig, war ein tief religiöser Chassid, der einen starken Einfluss auf den jungen Elie Wiesel ausübte. Er studierte bei örtlichen Lehrern den Talmud und, gegen den Willen des Vaters, auch Kabbala. Doch bestand Shlomo Wiesel, ein weltoffener Kaufmann, darauf, dass Elie auch das moderne Hebräisch lerne und darin geschriebene Literatur lese. 1940 fiel Sighet an Ungarn, im Frühjahr 1944 marschierte die deutsche Wehrmacht in Ungarn ein. Familie Wiesel musste ins Ghetto in Sighet umziehen. Mitte Mai 1944 wurde die jüdische Gemeinde Sighets nach Auschwitz deportiert. Bei der Ankunft in Auschwitz trennte die SS Shlomo und Elie Wiesel von den Frauen. Elies Mutter Sarah Wiesel und seine jüngste Schwester Tzipora wurden direkt nach der Ankunft in Birkenau ermordet. Da Elie sich als älter und Shlomo Wiesel sich als jünger ausgaben, wurden sie für drei Wochen in Quarantäne im Stammlager Auschwitz geschickt und dann zur Zwangsarbeit für I.G. Farben ins KZ Buna/Monowitz eingeteilt.
Vater und Sohn blieben immer zusammen und versuchten, sich gegenseitig beizustehen. Sie mussten schwere Arbeit leisten, u.a. Motoren und Steine verladen. Die Erfahrung der Brutalität und des alltäglichen Tötens in Buna/Monowitz und auf der Baustelle der I.G. Auschwitz bedeutete eine tiefe Erschütterung für Elie Wiesels Glauben, die in seinen späteren Berichten über die Zeit im Lager zum Ausdruck kommt. Als sich im Januar 1945 die Rote Armee Auschwitz näherte, beschloss die SS, die Lager zu räumen. Elie Wiesel befand sich zu dieser Zeit mit einer Fußverletzung im Krankenbau; dank seiner Kontakte, hätte er auch seinen Vater dort einschleusen können. Da sie jedoch davon ausgingen, die SS werde alle Zurückbleibenden ermorden, entschieden sie sich, mit den anderen Häftlingen abzumarschieren.
Mit anderen jüdischen Jugendlichen wurde er in Waisenheimen erst in Écouis, dann Ambloy und schließlich Versailles aufgenommen. In Frankreich erfuhr er, dass seine beiden älteren Schwestern, Hilda und Bea, ebenfalls überlebt hatten. Elie Wiesel begann Französisch zu lernen, die Sprache, in der er bis heute schreibt. Er studierte an der Sorbonne und begann als Journalist zu arbeiten, erst für den Irgun, dann für viele Jahre für Yediot Ahronot. Immer noch staatenlos, gelang es ihm aber, viel zu reisen. Auf einer Reise nach Brasilien im Jahr 1954 schrieb er seine Erinnerungen an die Zeit im KZ Buna/Monowitz auf Jiddisch nieder, ... און די וועלט האָט געשוויגן (…und die Welt hat geschwiegen), 1956 in Buenos Aires veröffentlicht; eine überarbeitete und gekürzte Fassung erschien 1958 auf Französisch, La Nuit (dt. Nacht, 1962), und machte Wiesel als Schriftsteller bekannt. In den folgenden Jahren schrieb er zahlreiche Romane, Essais und Reportagen, sowie Vorträge und Aufsätze über chassidische Gelehrte und zu biblischen Themen.
In Paris hatte Elie Wiesel für einige Jahre das Talmudstudium wieder aufgenommen, angeleitet von Mordechai Chouchani, später in New York studierte er viele Jahre bei Saul Lieberman. 1955 ging er nach New York, wo er die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Dort lehrte er für viele Jahre in der 92nd Street „Y“ und widmete sich zunehmend dem Schreiben, bis er den Journalismus in den 1960er Jahren ganz aufgab. 1965 und 1966 fuhr Elie Wiesel nach Moskau, unter dem Eindruck seines Besuchs der jüdischen Gemeinden in der Sowjetunion begann er, sich international für Ausreisemöglichkeiten für die sowjetischen Juden und Jüdinnen einzusetzen. In den folgenden Jahrzehnten setzte er sich immer wieder für Verfolgte in verschiedensten Regionen der Welt ein. Nicht zuletzt die Erfahrung, dass viele Menschen in Europa und den USA zu den Morden während des Zweiten Weltkrieges geschwiegen hatten
1969 heiratete Elie Wiesel Marion; sie und ihre Tochter aus erster Ehe, Jennifer, hatte Wiesel einige Jahre zuvor über Freunde in New York kennengelernt. Sie bekamen einen Sohn, Elisha. 1978 berief US-Präsident Jimmy Carter ihn zum Vorsitzenden der President’s Commission on the Holocaust, aus der 1980, nach einer Reise zu den Vernichtungsstätten in Polen und der UdSSR, die Kommission zur Einrichtung eines Holocaust-Museums in Washington, DC, hervorging, der Elie Wiesel bis 1986 vorstand. Das United States Holocaust Memorial Museum wurde 1993 eröffnet.
Von 1972 bis 1976 lehrte er Jüdische Studien an der City University of New York, 1982/83 war er Gastprofessor an der Yale University. Seit 1976 hat Elie Wiesel eine Professur für Philosophie und Religion an der Boston University inne. Er wurde mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, darunter das Grand-Croix de la Légion d’honneur (1984), die United States Congressional Gold Medal (1985) und die Presidential Medal of Freedom (1992). Im Jahr 1986 wurde Elie Wiesel der Friedensnobelpreis verliehen. Kurz danach gründeten er und Marion Wiesel „The Elie Wiesel Foundation for Humanity“.
Gerade in den USA wurde Elie Wiesel zu einem Inbegriff der Gedenkkultur an den Holocaust, einem ikonographischen Überlebenden
Elie Wiesel lebt heute in Connecticut.
(MN)