Glossar

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Elie Wiesels Schriften

 a  „My first Visit to his [Rebbe Menahem Mendel Schneersohn of Lubavitch’s] court lasted almost an entire night. I had informed him at the outset that I was a Hasid of Wizhnitz, not Lubavitch, and that I had no intention of switching allegiance. ‘The important thing is to be a Hasid,’ he replied. ‘It matters little whose.’“

(Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 402.)

 

 b  „‘What are you writing’ the Rebbe asked. ‘Stories,’ I said. He wanted to know what kind of stories: true stories. ‘About people you knew?’ Yes, about people I might have known. ‘About things that happened?’ Yes, about things that happened or could have happened. ‘But they did not?’ No, not all of them did. In fact, some were invented from almost the beginning to almost the end. The Rebbe leaned forward as if to measure me up and said with more sorrow than anger: ‘That means you are writing lies!’ I did not answer immediately. The scolded child within me had nothing to say in his defense. Yet, I had to justify myself: ‘Things are not that simple, Rebbe. Some events do take place but are not true; others are—although they never occurred.’“

(Elie Wiesel: Legends of Our Time. New York: Avon 1970, S. VIII.)

Elie Wiesels Schriften und ihre Rezeption sind so umfangreich, dass hier nur auf einige hingewiesen und ausgehend von seinem Zeugenbericht La Nuit (1958, dt. Nacht, 1962) nur auf ausgewählte Aspekte in weiteren Texten genauer eingegangen werden kann. Zu Wiesels Schriften zählen journalistische Arbeiten, autobiographische Texte, Romane, Theaterstücke, wissenschaftliche Arbeiten zu Themen der jüdischen Tradition und zahlreiche Essais. Die Erfahrung, des Holocaust ist die Grundlage seiner Schriften. Die Frage nach der Bedeutung dieser Erfahrung für die jeweilige Gegenwart seines Schreibens findet ihren Niederschlag in vielen seiner Romane und Essais, bis hin zur Auseinandersetzung mit seiner Bedeutung für die Generation der Kinder von Holocaust-Überlebenden in den Romanen Le cinquième fils (1983, dt. Der fünfte Sohn, 1985) und L'oublié (1989, dt. Der Vergessene, 1990). In den 1960er bis 1980er Jahren beschäftigte sich Wiesel auch mit der Lage der sowjetischen Juden, so in Les Juifs du silence (1966, dt. Die Juden in der UdSSR. Antisemitismus im Sowjet-Reich, 1967) und in dem Theaterstück Zalmen ou la folie de Dieu (1968, dt. Salmen, 1971).

 

In vielen seiner Texte lässt sich eine fortdauernde Auseinandersetzung mit den religiösen Traditionen und Lehren des Chassidismus, in denen er aufwuchs und von denen er tief geprägt wurde, beobachten. Im ersten Teil seiner Autobiographie, Tous les fleuves vont à la mer (1994, dt. Alle Flüsse fließen ins Meer, 1996), bezeichnet Elie Wiesel sich selbst, auch für die Nachkriegszeit, als Wischnitzer Chassid.  a  Die Auseinandersetzung mit den religiösen und kulturellen Traditionen des osteuropäischen Judentums erscheint so als Versuch, über den Bruch hinweg, welchen die Zeit in Auschwitz und die nationalsozialistische Zerstörung der chassidischen Kultur Osteuropas in Wiesels Leben geschlagen hatten, der Welt seiner Kindheit einen permanenten Ort auch in einer Welt nach dem Holocaust zu geben. Das lebendige Bewahren jüdischer Tradition tritt mit den Jahren in Wiesels Arbeiten und Leben immer zentraler als Widerstand gegen das nationalsozialistische Werk der Zerstörung zutage. Insbesondere seine Auslegungen der Aqeda (Bindung Isaaks), „The Sacrifice of Isaac: A Survivor’s Story“, und der Geschichte Hiobs, „Job: Our Contemporary“, sind hiervon geprägt, und ihre Themen – das Vater-Sohn-Verhältnis der Aqeda und der Aufschrei Hiobs gegen Gott – kehren auch in anderen Schriften Wiesels wieder, so in seinem Überlebensbericht Nacht.

 

In der französischen Originalausgabe von Nacht – bis auf sein erstes Buch schrieb und schreibt Wiesel alle seine Bücher auf Französisch – wird dieses als témoignage (Zeugnis) bezeichnet, die deutsche Übersetzung nennt es im Untertitel Erinnerung und Zeugnis. Dennoch wurde in der Rezeption immer wieder danach gefragt, inwieweit dieses am weitesten verbreitete Buch Wiesels, das in den USA der meistgelesene Bericht eines Überlebenden ist, nicht als Roman (novel) zu lesen sei. Dagegen hat Wiesel immer klar Einspruch erhoben[1] – obgleich Nacht auch als Trilogie mit zwei Romanen veröffentlicht wurde. Seine erzählenden Texte, die sich auch als Denkbilder verstehen lassen, bieten den Leser/innen eine andere, offene Gedanken provozierende Möglichkeit, über historische Geschehnisse, in diesem Fall den Holocaust, und die durch sie aufgeworfenen Fragen das (Zusammen)Leben der Menschen betreffend nachzudenken, als ein auf dokumentierende Genauigkeit beschränktes historisches Schreiben oder ein wissenschaftliches Argumentieren. Eine solche Konzeption der Erzählung kann in der Tradition jüdischer religiöser Überlieferung gesehen werden, und so verwundert es nicht, dass Wiesel an mehreren Stellen seines Werks der Frage nach der Wahrheit in seinen Erzählungen, bzw. nach ihrer historischen Genauigkeit, mit einer ‚chassidischen Erzählung‘ begegnet.  b 

 

Elie Wiesels zentraler Text Nacht lässt sich als literarische Gestaltung seines Zeugenberichts oder auch im Rahmen einer Trilogie mit zwei Romanen, La Nuit… L’Aube. Le Jour, lesen. Nacht erscheint so als Teil einer Auseinandersetzung Elie Wiesels mit seinem Dasein als Holocaust-Überlebender Ende der 1950er Jahre und mit den dadurch aufgeworfenen existentiellen Fragen im Mittel erzählenden Schreibens. Doch lässt sich Nacht auch damit vergleichen, wie Wiesel in seiner Autobiographie über seine Lagerzeit schreibt. Deutlich zeigt sich, wie der Schriftsteller Elie Wiesel aus seinem jeweiligen Schreibort und -alter heraus seiner Erinnerung an die Zeit in Auschwitz eine andere Gestaltung und neue Schwerpunkte der Darstellung, des Zugangs zu seiner Erinnerung gibt.

(MN)



Literatur

Seidman, Naomi: Elie Wiesel and the Scandal of Jewish Rage. In: Jewish Social Studies 3 (1996), H. 1, S. 1–19.

Weissman, Gary: Fantasies of Witnessing. Postwar Efforts to Experience the Holocaust. Ithaca, NY/London: Cornell UP 2004, S. 28–88.

Wiesel, Eliezer: ... און די וועלט האָט געשוויגן […und die Welt hat geschwiegen]. Buenos Aires: Union Central Israelita Polaca en la Argentina 1956.

Wiesel, Elie: La Nuit. Préface de François Mauriac. Paris: Minuit 1958.

Wiesel, Elie: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis [1962]. Mit einer Vorrede von François Mauriac. Freiburg: Herder 1996.

Wiesel, Elie: La Nuit… L’Aube. Le Jour. Paris: Seuil 1969.

Wiesel, Elie: Night / Dawn / Day.Northvale, NJ/London: Aronson 1987.

Wiesel, Elie: Die Nacht zu begraben, Elischa [1962]. München: LangenMüller 2005.

Wiesel, Elie: Legends of Our Time. New York: Avon 1970.

Wiesel, Elie: Messengers of God. Biblical Portraits and Legends. New York: Random House 1976.

Wiesel, Elie: Une Interview par comme les autres. In: Ders.: Un juif aujourd’hui. Paris: Seuil 1977, S. 25–31.

Wiesel, Elie: Plaidoyer pour les survivants. In : Ders.: Un juif aujourd’hui. Paris: Seuil 1977, S. 173–203.

Wiesel, Elie: Jude heute. Wien: Hannibal 1987.

Wiesel, Elie: Tous les fleuves vont à la mer. Mémoires Vol. 1. Paris: Seuil 1994.

Wiesel, Elie: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996.

Wiesel, Elie: Alle Flüsse fließen ins Meer. Autobiographie. Hamburg: Hoffmann und Campe 1995.

Wiesel, Elie: Et la mer n’est pas remplie… Mémoires Vol. 2. Paris: Seuil 1996.

Wiesel, Elie: And the Sea Is Never Full. Memoirs, 1969– . New York: Alfred A. Knopf 1999.

Wiesel, Elie: …und das Meer wird nicht voll. Autobiographie 1969–1996. Hamburg: Hoffmann und Campe 1997.

[1] „To begin with, Night is not a novel.“ (Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 271).