Flucht
(Stefan Keller: Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte. Zürich: Rotpunkt 2000, S. 124.)
Aus den meisten Konzentrationslagern, so auch aus dem KZ Buna/Monowitz, sind relativ wenige Fluchten bekannt. Nach Berechnungen von Tadeusz Iwaszko wagten nur 33 Häftlinge die Flucht aus dem KZ Buna/Monowitz. Eine Flucht war mit zahlreichen Risiken und Gefahren verbunden: Die meisten Häftlinge waren entkräftet und körperlich den Anforderungen von schnellem Rennen, Verstecken und eventuell langem Warten auf Hilfe und Nahrung kaum gewachsen. Dazu kam die starke Bewachung des Lagers mit doppeltem, elektrisch geladenem Stacheldrahtzaun und schießbereiten SS-Männern auf Wachtürmen. Waren diese überwunden, musste eine Postenkette aus SS-Wachen umgangen werden. Darüber hinaus war in Auschwitz ab März 1943 ein „Streifendienst“[1] eingesetzt und Bahnhofs-, Stadt- und Fahrradpatrouillen, die außerhalb der Postenkette kontrollbefugt waren. Häftlinge waren mit ihrem kahlgeschorenen Kopf, der charakteristischen Häftlingskleidung und der tätowierten Nummer leicht zu erkennen.
Eine Flucht konnte nur erfolgreich sein, wenn der Flüchtende Hilfe außerhalb des Lagers, d.h. von Zivilarbeiter/innen oder Partisanenorganisationen, erhielt. Weil sie aus sprachlichen Gründen leichter Kontakte nach Außen aufnehmen konnten und möglicherweise noch Verwandte in unmittelbarer Nähe hatten, waren die Fluchtchancen für polnische Häftlinge am höchsten. Für die zahlreichen jüdischen Häftlinge aus allen Ländern Europas, die im KZ Buna/Monowitz inhaftiert waren, gestaltete sich eine Flucht deutlich schwieriger: Nicht nur hatten sie selten eine Funktion, die es ihnen erlaubte Ausrüstung zu „organisieren“, und kannten in vielen Fällen weder die Umgebung noch die polnische Sprache, sie mussten zudem mit Antisemitismus bei der Landbevölkerung rechnen, die ihnen entweder Hilfe versagte oder sie gleich an die Gestapo verriet. Die Eingefangenen wurden zurück ins KZ gebracht, meist verhört und gefoltert und schließlich öffentlich gehängt. Nicht zuletzt wurde das Entkommen Einzelner mit kollektiven Strafen für das ganze Lager geahndet. Der Flüchtling musste damit rechnen, dass seine Freunde und Verwandten unter seiner Flucht zu leiden haben würden.
Wurde beim Zählen der Häftlinge auf der Baustelle oder im Lager festgestellt, dass einer oder mehrere fehlten, wurde das Gelände abgeriegelt und von der SS mit Hunden durchsucht. Der Appell dauerte so lange, bis die Zahlen stimmten. Die SS musste flüchtige Häftlinge außerdem an übergeordnete Stellen melden, u.a. „Reichsführer SS“, das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt und die Gestapo. Die Alarmbereitschaft der SS dauerte im Lager drei Tage: „Nach dieser Frist wurde der Flüchtling, wenn er nicht ergriffen worden war, aus dem Häftlingsstand des Lagers gestrichen, sein Name dagegen im Fahndungsbuch für gesuchte Personen notiert.“[2] Überlebende berichten von stundenlangen Stehappellen bei Wind und Wetter ohne Essen. Oftmals wurde der „Flüchtige“ schlafend oder tot gefunden.
In einzelnen Fällen gelang es Häftlingen jedoch wirklich, aus dem Lager zu fliehen. Der Berliner Jude Bully Schott floh im Sommer 1944. Er versteckte sich eine Nacht unter Isolierwolle auf der I.G. Baustelle. Richard Sommerlatt, ein deutscher Zivilarbeiter, hatte ihm eine Zugfahrkarte besorgt und begleitete ihn bis Berlin, wo er unter falschem Namen bei seiner Verlobten Gerda Lewinnek untertauchen konnte.[3] Den jüdischen Freunden Max Drimmer und Mendel Scheingesicht gelang im September 1944 dank der Hilfe des polnischen Zivilarbeiters Józef Wróna die Flucht. Sie versteckten sich zunächst bei Familie Wróna, dann wurden sie von einer Bekannten Mendel Scheingesichts bei Gleiwitz versteckt, bis sie von der Roten Armee befreit wurden. Die meisten anderen hatten weniger Glück: den meisten Überlebenden in unauslöschlicher Erinnerung sind die jüdischen Widerstandskämpfer Nathan Weissmann, Janek Grossfeld und Leo Diament. Die drei planten die Flucht, wurden jedoch verraten und von der SS gefoltert. Sie wurden am 10. Oktober 1944 vor ihren Mithäftlingen gehängt. Ehe sich der Strick zuzog, schrien sie ihnen Mut zu: „Kopf hoch Kameraden, wir sind die letzten!“ Flüchtige nichtjüdische Häftlinge wurden nicht immer gehängt, wenn sie gefasst wurden. In einzelnen Fällen wurden sie nur mit einem sogenannten „Fluchtpunkt“ auf der Kleidung markiert und durften das Lager nicht mehr verlassen.
Im Chaos der letzten Kriegstage, auf dem Todesmarsch, gelang es einer größeren Zahl von Häftlingen, sich von der Marschkolonne abzusondern und bis zum Eintreffen der Roten Armee zu verstecken. Nun, da das Ende des Dritten Reichs absehbar war, erhielten sie auch eher Hilfe aus der Bevölkerung – oft in der Hoffnung, durch Hilfe für KZ-Häftlinge die eigene Familie vor den befürchteten Übergriffen der Roten Armee schützen zu können.
(SP)