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Hans Deichmann (1907–2004)

Hans Deichmann, 2001'© Alfred Jungraithmayr
Hans Deichmann, 2001
© Alfred Jungraithmayr

 a  „Unter ‚Auskämmen‘ verstand man die Befragung der einzelnen Gefangenen nach Zivilberuf, Alter und Gesundheitszustand; schien das Ergebnis positiv, so wurden die Betroffenen als Fach- oder Hilfsarbeiter zur Arbeit auf den oberschlesischen Baustellen ‚ausgesondert‘ und in speziellen Transporten dorthin ‚verladen‘.“

(Hans Deichmann: Oggetti – Gegenstände. Milano: All'insegna del pesce d'oro di Scheiwiller 1995, S. 113.)

 

„Nach dem ‚Auskämmen‘ der Italiener-Lager in Mantova, Modena und Carpri – Ergebnis: über 200 ‚Bauarbeiter‘! – beschloss der Oberstleutnant, es auch in Fiume zu versuchen und liess sich zusammen mit HD am 20.9. in einem ‚Ju 52‘-Wasserflugzeug der Luftwaffe von Venedig nach Fiume fliegen.“

(Hans Deichmann: Oggetti – Gegenstände. Milano: All'insegna del pesce d'oro di Scheiwiller 1995, S. 113–114.)

 

 b  „HD, Anfang September 1945 nach Hause, in die Nähe Frankfurts, zurückgekehrt, war wie die meisten Rückkehrer arbeitslos, aber voller erwartungsreicher Begeisterung, nun teilzunehmen am geistigen Neuaufbau, an dem Versuch, dem den Deutschen so vertrauten Faschismus – von rechts und von links – seine geistigen Grundlagen und Gepflogenheiten zu entziehen. Es waren nur wenige, denen er sich zugesellen konnte, denn nur wenige hatten die Kraft und das Glück gehabt, sich vom Nationalsozialismus kompromisslos fernzuhalten.“

(Hans Deichmann: Oggetti – Gegenstände. Milano: All'insegna del pesce d'oro di Scheiwiller 1995, S. 28.)

 

 c  „Nun wurde es ihm plötzlich zum eigentlichen Inhalt der Reise, nach 47 Jahren den Ort wiederzusehen, wo ihn vom März 1942 bis November 1944 sein ziviler Kriegsdienst zehnmal zur Baustelle der IG Farben geführt hatte. Im Juli 1943, als das Morden seinen Höhepunkt erreicht hatte – auf der Baustelle sprach nun jeder davon – wurde für HD die Einsicht unausweichlich, dass die grauenvollen Untaten des NS-Regimes nur durch den mit allen Mitteln herbeizuführenden Verlust des Krieges enden würden. Er beschloss daher, von nun an das ihm Mögliche zur Beendigung des Krieges beizutragen.“

(Hans Deichmann: Oggetti – Gegenstände. Milano: All'insegna del pesce d'oro di Scheiwiller 1995, S. 162.)

Hans Deichmann wurde am 9. September 1907 als Sohn des Kölner Bankiers Carl Theodor Deichmann und seiner Frau Ada (geb. von Schnitzler) geboren. Seine Kindheit verbrachte er zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Carl, seiner drei Jahre jüngeren Schwester Freya, die später Helmut James Graf von Moltke, den führenden Kopf des Kreisauer Widerstandskreises, heiratete, und seinen Eltern recht wohlbehütet. Das Bankhaus der Familie florierte, bis es Anfang der 1930er Jahre durch die Weltwirtschaftskrise in den Ruin getrieben wurde.

 

Im Jahr 1923 kam der 16-jährige Hans Deichmann auf das Deutsche Kolleg in Bad Godesberg, eine Internatsschule. Anschließend studierte er Jura und verbrachte im Sommer 1927 ein Semester in Wien. Seinen Beruf konnte er aber nach Abschluss des Studiums aufgrund der wirtschaftlichen Lage nicht ausüben und begann eine kaufmännische Lehre bei I.G. Farben in Frankfurt am Main. 1931 promovierte er an der Universität Bonn mit einer Dissertation über die Staatsaufsicht über Stiftungen. Seinen ursprünglichen Wunsch Richter zu werden gab Deichmann nach der Machtübergabe an die Hitler-Regierung aus politischen Gründen auf, weil er aus politischen Gründen nicht für die NS-Justiz arbeiten wollte. Im Juli 1934 wurde Deichmann von der I.G. Farbenindustrie für ein Jahr nach Paris geschickt, wo er die Holländerin Senta Fayan Vlielander Hein heiratete, mit der er vier Kinder hatte.

 

1937 wechselte Deichmann in die Italien-Abteilung der I.G. Farbenindustrie in Frankfurt am Main, wo er für den Verkauf von Farben zuständig war. Im Herbst 1940 (wahrscheinlich am 12. November 1940) wurde Deichmann bei einem privaten Besuch seines Onkels, des I.G.-Vorstandsmitglieds Georg von Schnitzler, Zeuge eines Gesprächs mit dem I.G.-Vorstandsmitglied Fritz ter Meer. Die beiden Manager begrüßten den möglichen Einsatz von KZ-Häftlingen beim Bau eines neuen Bunawerks in Auschwitz als Standortvorteil.[1] Im März 1942 wurde Deichmann als Beauftragter des „Generalbevollmächtigten für Sonderfragen der chemischen Erzeugung im Vierjahresplan“ (GBChem), Carl Krauch, nach Rom geschickt. Deichmann war von da an für die Gewinnung italienischer Bauunternehmen zuständig, die ihre Arbeiter für den Bau der oberschlesischen Hydrierwerke der I.G. Farben, also auch für den Bau des I.G.-Werks in Auschwitz, bereitstellen sollten. Bis September 1943 erfolgte "/javascripts/tiny_mce/themes/advanced/langs/en.js?1228903100" type="text/javascript"> die Anwerbung auf freiwilliger vertraglicher Basis. Nach der Landung der Alliierten in Süditalien und der Kriegserklärung der neuen italienischen Regierung unter Marschall Pietro Badoglio gegen Deutschland im Oktober 1943 änderte sich die Rekrutierungspraxis von Arbeitskräften durch die Einführung von Zwangsmaßnahmen im noch nicht befreiten Norden Italiens grundlegend. Deichmann bemühte sich in der Folgezeit erfolgreich, die Zwangsrekrutierungen italienischer Arbeitskräfte zu vereiteln. Seit Oktober 1943 wurden keine italienischen Arbeitskräfte mehr für die oberschlesischen Werksbaustellen der I.G. Farben in Auschwitz, Heydebreck und Blechhammer rekrutiert. Gegen seinen Willen wurde er als Dolmetscher beim „Auskämmen“  a  von italienischen Kriegsgefangenenlagern eingesetzt. In seiner Funktion als Beauftragter des GBChem besuchte Deichmann erstmals am 16. März 1942 und später weitere neun Mal persönlich die Baustelle der I.G. in Auschwitz. Bei diesen Gelegenheiten beobachtete er die brutale Ausbeutung von KZ-Häftlingen und sah den rauchenden Kamin des Krematoriums in Auschwitz. Während der Besichtigung des Fremdarbeiterlagers für Italiener der I.G. Auschwitz erfuhr er weitere Einzelheiten über das Vernichtungslager von den italienischen Arbeitskräften. Deichmann entschloss sich daraufhin, das ihm Mögliche zu tun, um die deutschen Kriegsanstrengungen zu sabotieren. Zurück in Rom knüpfte er Verbindungen zu der antifaschistischen Widerstandsorganisation Giustizia e Libertà. Er unterstützte Sabotageaktionen und verriet kriegswichtige Informationen über deutsche Truppenbewegungen und Materialtransporte an italienische Partisanen und an die Alliierten. Über seine Schwester Freya von Moltke hatte er Verbindung zum Kreisauer Kreis.

 

Nach dem Krieg kehrte Hans Deichmann im Herbst 1945 nach Hessen in der amerikanischen Besatzungszone zurück.  b  Dort war er an den Entflechtungsverhandlungen des I.G. Farben-Konzerns beteiligt und fungierte in Entnazifizierungsverfahren für die SPD als Vorsitzender der Spruchkammer in Oberursel bei Frankfurt am Main. Enttäuscht von den politisch restaurativen Entwicklungen im beginnenden Kalten Krieg zog er nach nur drei Jahren mit seiner Frau und seinen Kindern wieder zurück nach Italien. Dort gründete er mit Bekannten die Importfirma SASEA, in der er bis Ende der 1960er Jahre in leitender Funktion arbeitete. Die Ehe mit Senta Feyan Vlielander Hein scheiterte. Seit 1960 lebte er mit der Architektin Luisa Castiglioni zusammen, die er 1956 kennengelernt hatte. Deichmann unterstützte verschiedene demokratische Initiativen, soziale, kulturelle und wissenschaftliche Projekte. Neben dem Centro Educativo Italo-Svizzero (C.E.I.S.), das Kinder mit Kriegstraumata und Behinderungen betreute, förderte er den Auf- und Ausbau der Scuola di Musica di Fiesole und die Mensa bambini proletari in Napoli.

 

Die Erinnerung an seine Zeit als I.G. Farben-Angestellter begleitete Deichmann sein ganzes Leben. Ende der 1980er Jahre begann er, seine Autobiografie zu schreiben. Im Jahr 1991 reiste er nach Auschwitz.  c  In den folgenden Jahren kritisierte Deichmann den deutschen Unternehmenshistoriker Gottfried Plumpe in einem öffentlichen Brief und führte mit dem amerikanischen Historiker Peter Hayes eine 1996 publizierte Kontroverse über die Gründe und den Zeitpunkt der Standortentscheidung der I.G. Farbenindustrie für Auschwitz. 1995 wurde sein Buch Oggetti – Gegenstände zunächst in Mailand und ein Jahr später in Deutschland publiziert. Darin beschreibt er in nicht-chronologischer Reihenfolge, immer von einem Gegenstand aus assoziierend, Erinnerungsepisoden aus seinem Leben. Die Leser/innen erfahren so seine Geschichte von seiner Kindheit bis in die Gegenwart des Autors. Für das Buch wurde Deichmann 1996 mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Bis zu seinem Tod am 6. Dezember 2004 in Bocca di Magra lebte Hans Deichmann in Italien.

(BG/FS)



Quellen

Kuby, Erich: Laudatio für Hans Deichmann anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises am 25. November 1996.

 

Literatur

Cordes, Annemarie: Nachruf Dr. Hans Deichmann (1907–2004). In: Kreisau-Initiative Berlin e.V. – Stiftung Kreisau für europäische Verständigung: Jahresrundbrief 2004, S. 43–44, http://www.kreisau.de/kib/ini/rundbriefe/rb_04/HD/body_hd.htm (Zugriff am 20.8.2008).

Deichmann, Hans: Die Staatsaufsicht über die Stiftungen. Greifswald: Adler 1933.

Deichmann, Hans: Auschwitz. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 5 (1990), H. 3, S. 110–116.

Deichmann, Hans: Offener Brief an Gottfried Plumpe. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 8 (1993), H. 4, S. 158–161.

Deichmann, Hans: Oggetti – Gegenstände. Milano: All'insegna del pesce d'oro di Scheiwiller 1995.

Deichmann, Hans: Gegenstände. München: dtv 1996.

Deichmann, Hans / Hayes, Peter: Standort Auschwitz: Eine Kontroverse über die Entscheidungsgründe für den Bau des I.G. Farben-Werks in Auschwitz. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 11 (1998), H. 1, S. 79–101.

Deichmann, Hans: Per giustizia, libertà, intesa tra popoli e razze. In: sozial.geschichte.extra, http://www.stiftung-sozialgeschichte.de/index.php?selection=17&zeigebeitrag=12 (Zugriff am 20.8.2008).

Sachs, Harvey: Der Ordinare. In: The New Yorker, 4.6.1990, S. 47.

Schultheis, Jürgen: November 1940, ein Tischgespräch im Familienkreis. In: Frankfurter Rundschau, 2.11.1993, S. 3.

[1] Vgl. Hans Deichmann: Auschwitz. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 5 (1990), H. 3, S. 110–116, hier S. 114; sowie Jürgen Schultheis: November 1940, ein Tischgespräch im Familienkreis. In: Frankfurter Rundschau, 2.11.1993, S. 3.