Glossar

Fahren Sie mit der Maus über ein rotes Wort im Haupttext, um den Glossareintrag für dieses Wort zu sehen.

Der Diavortrag des Angeklagten Walter Dürrfeld

Walther Dürrfeld bei seinem Abschlussplädoyer im Nürnberger Prozess gegen I.G. Farben, 1948
'© National Archives, Washington, DC
Walther Dürrfeld bei seinem Abschlussplädoyer im Nürnberger Prozess gegen I.G. Farben, 1948
© National Archives, Washington, DC

Kontrastierend zu Dürrfelds Ausführungen zur leichten Arbeit des „Kabelziehens“ stehen folgende Aussagen von Buna/Monowitz-Überlebenden:

  

„Die schlimmsten Erfrierungen kamen bei den im Eisen- und Kabelkommando arbeitenden Häftlingen vor. Die Arbeit in einem solchen Kommando kam in vielen Fällen einem Todesurteil gleich, da dort der Verschleiß an Menschen am grössten war.“

(Robert Elie Waitz, Eidesstattliche Erklärung, 12.11.1947, NI-12373. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 N (d), Bl. 31–39, hier Bl. 35.)

 

„Ein besonders fürchterliches Arbeitskommando war das Kabelkommando. Ich habe selbst gesehen, wie den Häftlingen, die größtenteils ohne Handschuhe oder Lederschutz arbeiten mussten, die Haut an den Kabeln hängen blieb. Ich weiß, dass selbst der SS-Arzt gesagt hat, ich gehe zur I.G., um diesen Arbeitsschutz zu besorgen. Es war vergebens.“

(Robert Elie Waitz, Zeugenvernehmung, 27.11.1952. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. I, Bl. 139R–142R, hier Bl. 142.)

 

„Ich halte das Kabelkommando für das Schlimmste in Monowitz. Wir sind in einer Rille in der Erde gegangen, einer hinter dem anderen und haben das Kabel auf den Rücken genommen und auf Kommando geschleppt. Dabei standen wir oft im Wasser. Wir haben nie Handschuhe gehabt.“

(Pinkas Ollstein, Zeugenvernehmung, 11.12.1952. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. I, Bl. 181–184R, hier Bl. 181R.)

 

„Gewiss, für einige Leute, zum Beispiel für mich, war die Arbeit in Monowitz nicht so schwer; für andere, zum Beispiel die Kabelleger in Monowitz, war sie sehr schwer. Das war unser Strafkommando. Ein Mann konnte es nicht mehr als drei Monate aushalten.“

(Gregoire M. Afrine, Zeugenvernehmung, 14.11.1947. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, Prot. (d), reel 050, Bd. 11a, Bl. 3880–3899, hier Bl. 3893.)

 

„Ich war Augenzeuge, wie ein Ingenieur Vogel einen Häftling des Kabelkommandos vor den Kopf getreten hat, als sie beim Kabelziehen hingefallen waren. Diese Kameraden blieben liegen, da unser Kapo mit einem Gummischlauch uns dauernd antrieb. Wir hatten an einem Tag 3 Tote, was öfters vorkam.“

(Isaac Spetter, Eidesstattliche Erklärung, 13.11.1947, NI-12383. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess, Fall VI, ADB 75 N (d), Bl. 3–10, hier Bl. 6.)

 

„Es gab ferner ein Kabelkommando, das die schweren elektrischen Kabel verlegte. Dieses Kommando bestand aus 5-600 Mann mit einer Menge von Meistern und Vorarbeitern. Es war das schwierigste Kommando, da die Häftlinge stets die Schultern, auf den en sie die Kabel zogen, verletzt haben. Ingenieure und Meister trieben die Leute mit Prügeln an. Ich kannte einen dieser Meister, weil ich ihm einmal den Daumen eingerenkt hatte und ich sah, wie er Steine nach den Häftlingen in den Graben warf, um sie zur Arbeit anzutreiben.“

(Marcel Stourdzé, Zeugenvernehmung, 15.1.1953. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. II, Bl. 213–217R, hier Bl. 215.)

 

Die „Misshandlungen durch die Meister bei der I.G.“ haben „niemals ganz aufgehört“. „Zum Schluss war es so, dass die Häftlinge bei der SS Schutz vor den Zivilisten gesucht haben. Ich habe selbst eine solche Anzeige einmal erstattet. Das war beim Kabelkommando, etwa im Herbst 1944, als ich dort Kommandoschreiber war. Das Kabelkommando war eines der schwersten auf Buna.“

(Benedikt Kautsky, Zeugenvernehmung, 29.1.1953. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. II, Bl. 257–264, hier Bl. 259R.)

 

„Ich kannte auch das Kabelkommando. Die Leute mussten die Kabel anfassen und ziehen, oder auf den Rücken nehmen und schieben. Die Häftlinge nahmen alte Lumpen dazu. Das Kommando war eines der schwierigsten Kommandos. Dass die Leute sich dort nicht wehgetan hätten, glaube ich nicht, das ist unmöglich.“

(Josef Löwenstein, Zeugenvernehmung, 4.12.1952. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. I, Bl. 158R–164R, hier Bl. 163Rf.)

 

„Bei der Registrierung in Monowitz erhielt ich die Nummer 116.908. Ich kam in den Block 3 und blieb dort etwa 14 Tage in Quarantäne. Während dieser Zeit wurde ich mit Aufbauarbeiten im Lager beschäftigt. Anschließend wurde ich dem sogenannten Kabelkommando zugeteilt, einem der unangenehmsten Kommandos in Monowitz überhaupt. Bei diesem Kommando blieb ich etwa 4 Monate lang.“

(Rudolf Robert, Staatsanwaltschaftliche Vernehmung vom 5.2.1960 in Berlin, Auschwitz-Prozess, 4 Ks 2/63. Archiv des Fritz Bauer Instituts, FAP-1, HA-25, Bl. 4192.)

 

„Nach einer 3-wöchigen Quarantänezeit kam ich zu dem sog. Kabelkommando. Bei diesem Kommando sind sehr viele Leute ums Leben gekommen. Insbesondere während der ersten acht Wochen waren täglich Tote zu beklagen.“

(Rudolf Robert, Richterliche Vernehmung vom 12.12.1960 in Berlin, Auschwitz-Prozess, 4 Ks 2/63. Archiv des Fritz Bauer Instituts, FAP-1, HA-76, Bl. 14208.)

 

„Die Neuzugänge wurden gleich in die schwersten Kommandos eingeteilt, z. B. Kabel-Kommando, Zement-Kommando, Kohlen-Kommando“ u.a. „Die Leute vom Kabel-Kommando kamen mit Schürfwunden an den Schultern oder an den Händen abends in den Krankenbau.“

(Jonas Silber, Zeugenvernehmung, 29.10.1953. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. II, Bl. 243–248R, hier Bl. 244.)

 

„In Monowitz kam ich zum „Kabel-Kommando“. Unsere Aufgabe bestand darin, im Bunawerk Kabel zu verlegen. Das Kommando bestand aus ca. 120 Häftlinge(n) und dürfte das größte Arbeitskommando in Monowitz gewesen sein. (…) Beim Kabelkommando blieb ich ca. drei Wochen und wurde dann Stubenältester im Lager Monowitz.“

(Werner Schwersenz, Polizeiliche Vernehmung von 5.10.1960 in Frankfurt am Main, Auschwitz-Prozess, 4 Ks 2/63. Archiv des Fritz Bauer Instituts, FAP-1, HA-38, Bl. 6610.)

 

„Ich selbst kam als Hilfsarbeiter in das Kommando 2, das Kabelkommando, zusammen mit meinen Brüdern Frank, Martin und Elias. Wir schufteten den ganzen Tag und bei jedem Wetter. Wir rollten mannshohe Kabelrollen und zogen Bleikabel von fünf bis zehn Zentimeter Durchmesser zu immer neuen Anschlussstellen in dem wachsenden Fabrikbereich. Ein kleiner Irrtum, ein geringes Versäumnis konnte einen das Leben kosten oder zur kollektiven Bestrafung – verlängerte Arbeitszeit bis zu zwanzig Stunden – führen.“

(Herman Sachnowitz: Auschwitz. Ein norwegischer Jude überlebte. Geschrieben von Arnold Jacoby. Frankfurt am Main/Wien/Zürich: Büchergilde Gutenberg 1981, S. 43.)

 

„Die Erdkommandos waren am schlimmsten. Gräben mussten ohne geeignetes Handwerkszeug ausgehoben werden, und das Kabelkommando zog ein etwa dreißig Zentimeter dickes, in Bitumen getränktes Kabel, in dessen Innerem sich an die hundertfünfzig Drähte befanden, von den zwei Kilometer weit entfernten Kabeltrommeln durch die Gräben. Die Menschen kamen mit der schweren Last auf den Schultern einfach nicht vorwärts, Schläge prasselten auf sie nieder – und aus lauter Not zogen sie das Kabel mit letzter Kraft millimeterweise weiter. In diesem Kommando starben täglich Häftlinge. Max Stern, der Vetter meines Vaters, wurde dem Kabelkommando zugeteilt. Nach drei, vier Wochen war er bereits ein Muselmann.“

(Hans Frankenthal: Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord. U. M. v. Andreas Plake, Babette Quinkert und Florian Schmaltz. Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 57.)

Am 15. April 1948 rief Rechtsanwalt Alfred Seidl (München) im Nürnberger Prozess gegen I.G. Farben seinen Mandanten, den ehemaligen Werksleiter der I.G. Auschwitz Dr. Walther Dürrfeld, in den Zeugenstand. Der Angeklagte wurde vereidigt und von seinem Rechtsbeistand in ein direktes Verhör genommen. Im Verlauf seiner dreitägigen Vernehmung[1] führte Dürrfeld am 16. April 1948 dem amerikanischen Gerichtshof 50 Dias („eine kleine Sammlung eines ehemaligen Mitarbeiters“[2]) vor, die als Beweisstück (Exhibit) Nr. 133 von der Verteidigung in das Verfahren eingeführt worden waren. Die von Dürrfeld vorgeführten Dias waren ein kleiner Rest einer umfangreichen Sammlung von etwa 15.000 bis 20.000 Fotoaufnahmen und drei Farbfilmen, die den Werksaufbau im Detail dokumentierten und 1945 beim Rückzug der Deutschen auf dem Werksgelände der I.G. Auschwitz zurückgeblieben waren. Zweck des Dia-Vortrags war zum einen, die Aufbauleistung der I.G. Farben im eingegliederten Ostoberschlesien unter Beweis zu stellen. Zum anderen bemühte sich Dürrfeld, zu seiner Verteidigung, dem US-Militärgericht aufzuzeigen, wie gesittet und sozial verträglich die Verhältnisse auf dem Werksgelände der I.G. für alle Werktätigen, einschließlich der KZ-Häftlinge, angeblich gewesen seien.

 

In seiner Vernehmung sprach Dürrfeld vom „zivilisatorischen Tiefstand“[3], den die Konzernmitarbeiter in der Stadt Auschwitz und in der Region angetroffen hätten. Im März 1941, als Dürrfeld zum ersten Mal die Ortschaft und das vorgesehene Baugelände inspizierte, waren die über 8.000 Jüdinnen und Juden der Kleinstadt, mehr als die Hälfte der Einwohner, bereits in die Ghettos von Bendsburg (Będzin) und Sosnowitz (Sosnowiec) verbracht worden. Dürrfeld fand eine „judenfreie“, nur noch von Polen und wenigen Deutschen bewohnte Stadt vor, die durch den Zuzug von deutschen Arbeitskräften und den Bau einer großen I.G.-Werkssiedlung einen rasanten Aufschwung erfahren sollte. Als „Kriegsdienst“, als „Rüstungs-“ und zugleich als „Kulturaufgabe“[4], begriff Dürrfeld sein Wirken im Osten, den zu germanisieren die als ehrenvoll empfundene vaterländische Tat war. Nicht nur ein kriegswirtschaftlich wichtiges Werk galt es zu errichten, die Stadt und der gesamte Landstrich war infrastrukturell auf ein aus deutscher Sicht „angemessenes“ zivilisatorisches Niveau zu heben, in der Perspektive der deutschen Besatzer und ihrer beflissenen Helfer aus der Kriegswirtschaft also nach Reichsmaßstäben zu modernisieren.

 

Dürrfelds Sicht verklärte die Leistung der I.G.: Sie habe laut Dürrfeld die Menschen Ostoberschlesiens in Lohn und Brot gebracht. In einer von gleichberechtigten und gleichbehandelten Arbeitskräften getragenen Anstrengung, unter schwierigen, von Jahr zu Jahr sich verschlechternden Kriegsbedingungen, habe die I.G. ihr Großwerk erbaut. Wichtig war ihm insbesondere, unter Beweis zu stellen, dass die Arbeitsverhältnisse im Werk für jedermann, ob Zivilarbeiter, Ostarbeiter oder KZ-Häftling, vollkommen „normal“ gewesen seien. Die Fürsorglichkeit der I.G. ohne Ansehen der Person strich er in seiner Vernehmung heraus. Zur „Gefolgschaft“, um die sich die I.G. traditionell hingebungsvoll gekümmert habe, gehörten für Dürrfeld auch die bedauernswerten KZ-Häftlinge, denen die I.G. durch das Arbeitsangebot im Werk und durch bessere Verpflegung ein leichteres Los zu verschaffen getrachtet habe. Dem Selbstverständnis der I.G.-Verantwortlichen zufolge zogen die Auschwitzer Häftlinge den Arbeitseinsatz bei der I.G vor. Sowohl die Arbeit auf der Werksbaustelle  als auch das Dasein im „Arbeitslager“ Buna/Monowitz waren aus Sicht der I.G. für die KZ-Insassen im Vergleich zum Konzentrationslager Auschwitz (Stammlager) und den dortigen Arbeitskommandos von Vorteil.[5] Von unmenschlicher Behandlung der Häftlinge durch Zivilisten konnte laut Dürrfeld keine Rede sein, ebenso wenig von Unterernährung und hoher Sterblichkeit. Die Arbeit ging nach seiner Darstellung selbst in einem Kommando, das die überlebenden Sklavenarbeiter als Straf- und Mordkommando beschrieben, im berüchtigten „Kabelkommando“, gemächlich und ruhig vonstatten. Dürrfeld betonte, dass jede Arbeit leicht von der Hand gehe, wenn alle gewillt seien gemeinschaftlich zu handeln.

 

Was die Zeugen der Verteidigungim Bestreben, die Aussagen der Buna/Monowitz-Überlebenden in Abrede zu stellen, bereits unisono geschildert hatten, versuchte Dürrfeld mit seinem Lichtbildvortrag, Schwarz auf Weiß zu beweisen. Alles sei bei der I.G. in Auschwitz mit rechten Dingen zugegangen. Die I.G. sei, laut Dürrfeld, ein fürsorglicher, sozialer Arbeitgeber gewesen, der unter schwierigsten Kriegsumständen, zudem behindert von einer engstirnigen NS-Bürokratie, ein innovatives Großprojekt für Kriegs- und Friedenszeiten zu realisieren suchte. Die vorgeblich dem Unternehmen von der Staatsführung auf Befehl[6] aufgezwungenen KZ-Häftlinge, in den Augen der I.G.-Verantwortlichen wenig leistungsfähige und deshalb auch unrentable und teure Arbeitskräfte, habe der Chemiekonzern nach eigenem Ermessen nach Kräften menschlich behandelt.[7] Von einem „Treiben“[8] der KZ-Häftlinge auf dem Werksgelände (Arbeiten im „Laufschritt“) könne keine Rede sein. Wie die Konzentrationslagerinsassen auch, sei die I.G. der Lager-SS gegenüber – so Dürrfeld – ohne Einfluss und machtlos gewesen. Sofern im Werk I.G. Auschwitz und im Lager Buna/Monowitz Opfer zu beklagen waren, habe die I.G. – so die einhellige Darstellung der angeklagten I.G.-Mitarbeiter und der Verteidigungszeugen – für diese bedauerlichen Vorkommnisse keinerlei Verantwortung. getragen. Wie sehr ihm das Schicksal der Häftlinge nahe gegangen sei, versuchte Dürrfeld bei der Befragung durch seinen Verteidiger in folgenden Worten zum Ausdruck zu bringen: „Wenn ich Häftlinge gesehen habe, insbesondere, wenn sie in Kolonnen marschiert sind, wenn sie durch das Werk zogen, zu ihrer Arbeitsstelle, diese gefangenen Menschen, die Köpfe kahl geschoren, in eine entstellende und entwürdigende Uniform hineingesteckt, ja da kann ich nicht anders sagen, da hat einem das Herz geblutet.“[9]

 

Dürrfelds Vertrauen in den Erfolg seiner Verteidigungsstrategie war offensichtlich groß. Um die von nahezu allen Überlebenden hervorgehobenen mörderischen Bedingungen im „Kabelkommando“ schönzureden, zeigte Dürrfeld dem Gericht zwei Fotos (Bild 1322, 1323: „Kabelarbeit“) von Kabel ziehenden Arbeitern, die im „Werk Ludwigshafen“[10] aufgenommen worden waren. Allen Ernstes glaubte der Zeuge (bzw. Angeklagte), mit seiner Darstellung und den beigezogenen Beweismitteln die Schilderung der Opferzeugen als unzutreffend zurückweisen zu können. Dürrfelds Bewertung der eidesstattlichen Erklärungen der Buna/Monowitz-Häftlinge fiel entsprechend kritisch aus: „Soweit ich aber die Dinge zusammenfassend beurteilen kann, möchte ich nur ebenso zusammenfassend sagen, dass, wo ich die Schilderungen beurteilen kann, diese Angaben der Häftlinge voll von Irrtümern sind, voll von Fehlern, voll von falschen Darstellungen oder ungeheuerlichen Übertreibungen. An einigen Stellen möchte es mir sogar scheinen, dass die Affianten [d.h. die Opferzeugen, die ein Affidavit abgelegt haben] wissen müssten, dass sie irren.“[11]

 

Auf Vorhalt des Affidavits von Norbert Wollheim, in dem von Schweißen ohne Schutzvorrichtungen die Rede ist, bemerkte Dürrfeld: „Zu der Behauptung, dass das Schweißen die schwerste Arbeit sei, möchte ich nur auf das Lichtbild verweisen, worauf eine Frau zu sehen war, die eine Rohrleitung schweißt. Wir haben zahlreiche Frauen, deutsche und ausländische, zum Schweißen ausgebildet, und ich glaube, ich kann auch als Ingenieur beurteilen, dass Schweißen nicht zu den schwersten Tätigkeiten gehört. Die Frauen haben den Beruf jedenfalls gern ausgeübt.“[12] Unfreiwillig komisch liest sich Dürrfelds Erläuterung zu Bild 1318: „Es ist auch hier die Zusammenarbeit zwischen zivilen Arbeitern und Häftlingen zu erkennen. Die Aufnahme ist sicher nicht gestellt, denn man sieht sie hier alle arbeiten und man kann hier keinerlei Hast feststellen.“[13] Keine Hast wurde von Dürrfeld konstatiert, um die Behauptung von Überlebenden zu widerlegen, viele Arbeiten hätten im Laufschritt durchgeführt werden müssen, das Arbeitstempo sei für die geschwächten, halb verhungerten Häftlinge mörderisch gewesen. Im rechten Licht gesehen sei das I.G.-Werk Dürrfeld zufolge – den angeblichen Entstellungen und Übertreibungen der Zeugen der Anklage zuwider – ein Ort der multinationalen Eintracht, der friedlichen Harmonie gewesen. Kommentierend meinte Dürrfeld zu Bild 1326, das eine Betriebswerkstatt zeigt: „In einer solchen Werkstätte arbeiteten Arbeiter aller Nationen zusammen, die sich zu gemeinsamen Arbeiten dort friedlich zusammengefunden haben.“[14]

Das Werk I.G. Auschwitz war mithin in Dürrfelds Augen eine Stätte der Völkerverständigung mitten im Krieg. „Gemeinsame Ausflüge“ seien, nach Dürrfelds Worten, von den Betrieben gemacht worden, „in denen sich ebenfalls der Deutsche und Belgier, der Franzose oder der Russe zusammenfand.“[15] Die meist dienstverpflichteten und gewaltsam ausgehobenen Arbeiterinnen und Arbeiter aus Ländern, die von der deutschen Wehrmacht überfallen und besetzt worden waren, deren Wirtschaftskraft zugunsten der deutschen Kriegsmaschinerie ausgenutzt wurde, hegten nach Dürrfeld selbstverständlich keinen Groll gegen die I.G. und ihre Mitarbeiter, seien gleichsam froh über die erhaltene Anstellung gewesen.

 

An anderer Stelle seiner Vernehmung schlug Dürrfeld jedoch einen anderen Ton an. Eines der beauftragten Subunternehmen, eine belgische Firma, habe – so Dürrfeld in einem unbedachten Augenblick der Selbstentblößung – „nach eigenem Geständnis sehr viel minderwertige Menschen mitgebracht, denn wir haben in der Tat sehr viel Schwierigkeiten gehabt. Man macht sich oft keine Vorstellung davon, was für Menschen hier hingebracht worden sind. Es waren da sozusagen berufsmäßige Bummelanten und Simulanten darunter.“[16] Dürrfeld hatte eine in seiner reichen Berufserfahrung gewonnene Erklärung für das Phänomen: „Das ist eben die Folgeerscheinung davon, wenn so vielen Menschen auf einmal ohne große Auslese, an eine Stelle hin verwiesen werden. Sie haben den natürlichen Ausleseprozess eines alten Werkes, das seit 10 und 20 Jahren besteht, noch nicht durchgemacht.“[17] Ganz in der Sprache seiner Zeit fuhr Dürrfeld unerschrocken sodann fort: „Es gab Simulanten, die haben sich selbst Verwundungen beigebracht und Eiterungen, in dem sie Zehnpfennigstücke heiß machten, haben sie irgendwo aufgelegt, und mit bestimmten Pflanzen eingerieben und sich auf diese Weise Krankheiten beigebracht. Alle solche Dinge mussten natürlich ausgemerzt werden.“[18] Im Lager Buna/Monowitz führte die „Auslese“, die „Ausmerzung“ der „arbeitsunfähigen“ Sklavenarbeiter die SS in Übereinstimmung mit der I.G. aus. Wer nicht mehr arbeiten konnte, nicht mehr arbeitsfähig ins Lager entlassen bzw. zur I.G.-Baustelle kommandiert werden konnte, fiel einer Selektion zum Opfer. Eine „Auslese“ von „Facharbeitern“ den I.G.-Arbeitsanforderungen entsprechend trafen Dürrfeld und andere im KZ Auschwitz (Stammlager) und im Lager Buna/Monowitz. Im firmeneigenen Lager konnte die I.G. über die von ihr bezahlten KZ-Häftlinge nach Gutdünken verfügen. Häftlinge, die weder für ein Lager- bzw. Innenkommando noch für ein Werkskommando mehr „tauglich“ waren, wurden ins Vernichtungslager Birkenau „überstellt“ und ermordet. Von diesem „Ausleseverfahren“, von dieser „Ausmerzungsmethode“, will freilich keiner der I.G.-Verantwortlichen Kenntnis gehabt haben. Wenn die Meldungen über mangelnde Arbeitsleistung sich häuften, stand Dürrfeld beim Ausmarsch der Häftlingskommandos zusammen mit SS-Führern am Lagertor und sortierte diejenigen Häftlinge aus, die in einem schlechten körperlichen Zustand waren. Die Möglichkeiten der Arbeitsleistungsmaximierung waren für die I.G. somit vielfältig. Man meldete einen „leistungsschwachen“ Häftling bei der SS, die den Betroffenen bei nächster Gelegenheit selektierte oder man sortierte selbst mit aus.

(WR)



Quellen

Walther Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 15./16./19.4.1948. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, Prot. (d), reel 056, Bd. 32a, Bl. 11767–11821 (15.4.1948), Bl. 11824–11916 (16.4.1948), reel 057, Bd. 33a, Bl. 11935–11987, 12004–12051 (19.4.1948).

Norbert Wollheim, Eidesstattliche Erklärung, 3.6.1947, NI-9807. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 (d), Bl. 122–130 sowie ADB 79 (d), Bl. 27–35.

 

Literatur

Pelt, Robert-Jan van / Dwork, Debórah: Auschwitz. Von 1270 bis heute. Zürich/München: Pendo 1998.

Steinbacher, Sybille: Musterstadt Auschwitz‘. Germanisierungspolitik und Judenmord in Oberschlesien. München: Saur 2000.

Steinbacher, Sybille: Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte. 2., durchges. Aufl. München: Beck 2007.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.

[1]Walther Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 15./16./19.4.1948. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, Prot. (d), reel 056, Bd. 32a, Bl. 11767–11821 (15.4.1948), Bl. 11824–11916 (16.4.1948), reel 057, Bd. 33a, Bl. 11935–11987, 12004–12051 (19.4.1948).

[2] So Dürrfeld in seiner Erläuterung zu dem Beweisstück (Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 16.4.1948, Bl. 11828). Es handelte sich bei dem Mitarbeiter um den I.G.-Ingenieur Bertold Zahn. Dem Fritz Bauer Institut sind im Jahr 2005 die Original-Dias aus dem Nachlass von Zahn übereignet worden.

[3] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 15.4.1948, Bl. 11795.

[4] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 15.4.1948, Bl. 11795.

[5] Vom Vernichtungslager Birkenau und der Massenvernichtung von Juden hatte Dürrfeld, wie er betonte, keinerlei Kenntnis (Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 19.4.1948, Bl. 12010f.). Dürrfeld wohnte von Oktober 1942 bis Januar 1945 in Auschwitz, bzw. in einer Werkssiedlung. Im Sommer 1944, zur Zeit der Vernichtung der Juden aus Ungarn, nahm Dürrfeld während einer Autofahrt in der Nähe des Lagers freilich einen „Geruch“ (Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 19.4.1948, Bl. 12012) wahr.

[6] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 16.4.1948, Bl. 11853.

[7] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 19.4.1948, Bl. 11936. „Die Häftlinge“, führte Dürrfeld am 19. April 1948 aus, „gehörten unter Berücksichtigung ihrer Leistung zweifellos zu den teuersten Arbeitskräften der Baustelle. […] Wirtschaftliche Betrachtungen […] haben bei uns niemals eine Rolle gespielt, wenn es sich um Menschen handelte. Das war der Geist der Bausitzungen und das war auch der Geist der Anordnungen auf der Baustelle.“

[8] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 16.4.1948, Bl. 11833.

[9] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 19.4.1948, Bl. 11982.

[10] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 16.4.1948, Bl. 11837.

[11] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 19.4.1948, Bl. 12027.

[12] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 19.4.1948, Bl. 12030. – Norbert Wollheim machte in seinem Affidavit folgende Angaben: „Ich selbst wurde im Sommer 1943 als Schweißer einem Facharbeiterkommando zugeteilt. Es gehörte zu den Regelmäßigkeiten, Häftlinge mit den Schmutzigsten und gefährlichsten Arbeiten zu beschäftigen, dagegen haben für uns bis zum Ende unserer Tätigkeit so gut wie alle Schutzmaßnahmen gefehlt. Beispiele: Als Schweißer habe ich monatelang ohne Schweißbrille arbeiten müssen, bis ich mir später eine ‚organisieren‘ konnte.“ Norbert Wollheim, Eidesstattliche Erklärung, 3.6.1947, NI-9807. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 (d), Bl. 122–130, sowie ADB 79 (d), Bl. 27–35.

[13] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 16.4.1948, Bl. 11836.

[14] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 16.4.1948, Bl. 11838.

[15] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 16.4.1948, Bl. 11845.

[16] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 16.4.1948, Bl. 11881.

[17] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 16.4.1948, Bl. 11881.

[18] Dürrfeld, Zeugenvernehmung, 16.4.1948, Bl. 11881.