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Zwangsarbeit bei I.G. Farben

Ukrainische Zwangsarbeiterin an der Drehbank in I.G. Auschwitz'© Fritz Bauer Institut (Zahn-Nachlass)
Ukrainische Zwangsarbeiterin an der Drehbank in I.G. Auschwitz
© Fritz Bauer Institut (Zahn-Nachlass)
Zwangsarbeiter/innen beim Straßenbau'© Fritz Bauer Institut (Zahn-Nachlass)
Zwangsarbeiter/innen beim Straßenbau
© Fritz Bauer Institut (Zahn-Nachlass)

Der Einsatz von Zwangsarbeiter/innengehörte spätestens seit 1942 zur Kriegswirtschaft des Deutschen Reiches. Das Problem des Mangels an Arbeitskräften bestand allerdings schon früher: Seit Ende 1937 herrschte im Deutschen Reich ein Mangel an Arbeitskräften. Auf den Großbaustellen der Buna- und Treibstoffwerke der I.G. Farben wurden die Bauarbeiter knapp, und erhebliche Teile der Stammbelegschaften der Hauptwerke begannen, wegen der Niedriglöhne im Chemiesektor in die boomende Metall- und Schwerindustrie abzuwandern. Die Werksdirektionen versuchten gegenzusteuern, indem sie in Absprache mit dem „Generalbevollmächtigten für Sonderfragen der chemischen Erzeugung“ (GB Chemie), Carl Krauch, die wöchentliche Arbeitszeit auf 56 Stunden erhöhten und Werber in die gerade annektierten Gebiete schickten, die die ersten Kolonnen von Fremdarbeiter/innen aus Österreich, den Sudetengebieten und seit dem Sommer 1939 auch aus dem „Protektorat Böhmen und Mähren“ anheuerten. Zusätzlich machten sie sich die am 22. Juni 1938 proklamierte Dienstpflichtverordnung und die sich daran anschließenden Erlasse der Geschäftsgruppe Arbeitseinsatz der Vierjahresplanbehörde zunutze, die die Freizügigkeit der Lohnabhängigen zunehmend einschränkten, und fesselten die ersten deutschen „Dienstverpflichteten“ an ihre Arbeitsplätze. Seit 1940 nutzte die I.G. ihre „Vermittlungsstelle W[ehrmacht]“ in Berlin, um zivile Fremdarbeiter/innen, Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter/innen zu beschaffen. Dies erfolgte ab 1942 in Zusammenarbeit mit dem im März diesen Jahres zum „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ ernannten Fritz Sauckel. Daneben bemühten sich die Werke der I.G., in den besetzten Ländern einzelne Arbeitskräfte zu werben oder die Gründung von Leiharbeitsfirmen zu befördern und Verträge mit Subunternehmen zu schließen.

 

Die Breite und Mehrgleisigkeit der Rekrutierungsmethoden führte zu enormen arbeitsrechtlichen, sozialen, „rassen“-politischen und nationalen Unterschieden in den Belegschaften, die sich mit den Begriffspaaren „Fremdarbeiter – Zwangsarbeiter“ bzw. „Deutsche – Ausländer“ nicht fassen lässt. Das Differenzierungsraster der personalstatistischen Zentrale in Leverkusen ging weit darüber hinaus und teilte die verschiedenen Kategorien der Arbeiter/innen nach teilweise einfachen, teilweise aber auch recht komplexen Merkmalen ein: Es unterschied bei der deutschen Belegschaftsgruppe nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen Stammarbeiter/innen, Dienstverpflichteten und Wehrmachtsbeurlaubten. Es differenzierte darüber hinaus zwischen den Arbeiter/innen deutscher und ausländischer Fremdfirmen sowie zwischen deutschen und ausländischen Leiharbeiter/innen. Die Häftlingsarbeiter/innen wurden in Justizgefangene, Wehrmachtsstrafgefangene und KZ-Häftlinge aufgeschlüsselt. Auf die Kriegsgefangenen und die zivilen Fremdarbeiter/innen wurden dagegen die nach der NS-Rassenideologie üblichen nationalen Zuschreibungsmuster angewandt, wobei unter den Fremdarbeiter/innen nur die Polinnen und Polen ausdrücklich als Zwangsarbeiter/innen galten. Das war sicher willkürlich, denn viele Betriebsleitungen hatten auch auf „Ostarbeiter/innen“ zurückgegriffen, und auch die westeuropäischen und italienischen Leih-, Fremdfirmen- oder Einzelarbeiter/innen wurden nach ihren Fluchten aus den immer unerträglicher und gefährlicher gewordenen Arbeitsverhältnissen verhaftet und interniert, wenn sie in Deutschland, ihren Heimatländern oder in den besetzten Gebieten in die Fahndungsmaschinerie der Sicherheitspolizei gerieten. Im Gegensatz zu den technischen und kaufmännischen Kadern, die von der Meister- und Sachbearbeiterebene aufwärts mit individuellen Arbeitsverträgen ausgestattet waren, waren die Arbeiterbelegschaften durchgängig unfrei.

 

In den letzten Kriegsjahren waren alle Werke der I.G. Farben von riesigen Lagerkomplexen umgeben, die in Gemeinschaftslager für die deutschen Dienstverpflichteten und die geringeren Graden der Unfreiheit unterworfenen Ausländer/innen, in Sonderlager für die Kriegsgefangenen und die osteuropäischen Zwangsarbeiter/innen sowie die Außenkommandos der Konzentrationslager ausdifferenziert waren. Schon im Februar 1943 war etwa die Hälfte der Arbeiterbelegschaften in diesen Lager-Agglomerationen untergebracht. Die von der I.G. bis dahin auf 108.593 Plätze gesteigerte Kapazität war mit 70.543 Fremdarbeiter/innen, 19.958 Deutschen, 14.156 Kriegsgefangenen, 2.195 Wehrmachtsstrafgefangenen und 1.741 sonstigen Arbeitskräften belegt.

 

Die Beschäftigung von KZ-Häftlingen war in dieser Aufstellung noch nicht berücksichtigt. Das im Oktober 1942 auf dem Werkskomplex von I.G. Auschwitz eröffnete KZ Buna/Monowitz mit seinen 1.700 Häftlingen war der Beginn. Insgesamt wurden ab 1942 nach heutigem Wissensstand an mindestens 23 Standorten des I.G. Farben-Konzerns und der durch ihn beherrschten Beteiligungsgesellschaften etwa 51.445 KZ- und Gestapo-Häftlinge zur Arbeit gezwungen. Ihre Überlebensbedingungen variierten erheblich, und die Unternehmensleitungen praktizierten alle erdenklichen Abstufungen der Ausbeutung bis hin zur skrupellosen Vernutzung ihres Arbeitsvermögens. Die Zahl der Häftlinge, die bei der I.G. Farbenindustrie oder ihren Beteiligungsgesellschaften zugrunde gingen oder getötet wurden, variiert stark entsprechend der unterschiedlichen Schätzungen der Totenzahlen des KZ Buna/Monowitz in der historischen Forschungsliteratur. Legt man die niedrigste Angabe von mindestens 10.000 Toten im KZ Buna/Monowitz des polnischen Historikers Piotr Setkiewicz zugrunde, die auf einer Auswertung der lückenhaft erhaltenen zeitgenössischen Quellen beruht, kamen insgesamt mindestens 16.500 Häftlinge, also etwa ein Drittel der von der I.G. Farbenindustrie eingesetzten Häftlinge ums Leben. Geht man hingegen, wie u.a. die Historiker Peter Hayes, Raul Hilberg und Bernd Wagner, unter Bezug auf Aussagen von überlebenden Funktionshäftlingen, die im KZ Buna/Monowitz die Häftlingskartei führten, davon aus, dass zwischen 23.000 und 25.000 Häftlinge allein auf der Baustelle der I.G. Farbenindustrie und im KZ Buna/Monowitz an Hunger, Krankheiten oder Erschöpfung zugrunde gingen oder getötet wurden, erhöht sich die Gesamtzahl der Toten auf 31.500 bis 33.500. Im Herbst 1944 erreichten die Beschäftigtenzahlen in den etwa 100 im Bau befindlichen oder produzierenden Anlagen der I.G. Farben ihren Höhepunkt. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich in diesen Anlagen sowie in den ausschließlich für die Arbeitskommandos der I.G. Farben reservierten Lagern 24.050 KZ- und Gestapo-Häftlinge.

(GK; erstellt auf der Grundlage von Karl Heinz Roth: Die I.G. Farbenindustrie AG im Zweiten Weltkrieg)



Download

[pdf] Karl_Heinz_Roth_Die_IG_Farben_Industrie_AG_im_Zweiten_Weltkrieg

[pdf] Mark Spoerer_Zwangsarbeit im Dritten Reich


Quelle

Büro Dr. Bertrams, Personalstatistik, Belegschaftszahlen Vol. 9 und 10. Bayer Archiv Leverkusen (BAL), 265–53.

 

Literatur

Hayes, Peter: Industry and Ideology: IG Farben in the Nazi Era. Cambridge/New York: Cambridge UP 1987.

Hayes, Peter: Die IG Farbenindustrie und die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen im Werk Auschwitz. In: Hermann Kaienburg (Hg.): Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939–1945. Opladen: Leske & Budrich 1996, S. 129–148.

Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt am Main: Fischer 1990.

Setkiewicz, Piotr: Zdziejów obozów IG Farben Werk Auschwitz 1941–1945. Oświęcim: Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau 2006, S. 157–158.

Setkiewicz, Piotr: Mortality among the Prisoners in Auschwitz III-Monowitz. In: Pro Memoria. Information Bulletin 26 (2007), S. 61–66.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.

Zwangsarbeiter in der Filmfabrik Wolfen 1939–1945. Ihre ökonomische und soziale Lage und Unterbringung dargestellt mit postalischen Belegen. Bearb. v. Herbert Bode / Manfred Gill. Wolfen: Kommission für Betriebsgeschichte der zentralen Parteileitung 1982.