Jean Améry und Primo Levi
(W.G. Sebald: Jean Améry und Primo Levi. In: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): Über Jean Améry. Heidelberg: Winter 1990, S. 115–123, hier S. 117.)
(W.G. Sebald: Jean Améry und Primo Levi. In: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): Über Jean Améry. Heidelberg: Winter 1990, S. 115–123, hier S. 118–119.)
(Jan Philipp Reemtsma: 172364: Gedanken über den Gebrauch der ersten Person Singular bei Jean Améry. In: Stephan Steiner (Hg.): Jean Améry (Hans Maier). Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld 1996, S. 63–86, hier S. 82.)
Das Verhältnis zwischen Jean Améry und Primo Levi, dessen Überlebensbericht Ist das ein Mensch? bereits 1961 in Deutschland erschien, also fünf Jahre vor Amérys Jenseits von Schuld und Sühne, war ein angespanntes. Dies sei nicht zuletzt darauf zurückzuführen, so die Améry-Biographin Irene Heidelberger-Leonard, dass Levi Améry gewissermaßen schon „die Schau gestohlen“ hatte. Améry nannte Levi in privaten Korrespondenzen einen „Verzeiher“ und machte ihm den Vorwurf der Versöhnlichkeit, wohingegen Levi Amérys unerbittliche Position kritisierte und Amérys Essay „An den Grenzen des Geistes“ als „bitteren und kaltschnäuzigen Aufsatz“[1] empfand. Er unterstellte ihm mangelnde Freude am Leben. Améry und Levi standen als Schriftstellerkollegen in unregelmäßigen Briefkontakt, begegneten sich aber nach ihrer Lagerzeit nicht mehr persönlich.
Wo Levis Bericht über seine Zeit im KZ Buna/Monowitz einer klaren Chronologie folgt, die sich an Dantes Höllenreise anlehnt, da weist Améry jegliche stringente Narration weit von sich, reduziert dokumentarische Beschreibungen aufs äußerste und ist im Ton unerbittlich.[2] W.G. Sebald machte die Differenzen zwischen beiden an den Erfahrungsunterschieden fest: „Die Vorstellung, Améry sei der Unerbittlichkeit seines eigenen Denkens zum Opfer gefallen, kann vor allem deshalb nicht überzeugen, weil sie, aus Vorsatz gewiß nicht, sondern aus einer defensiven Haltung heraus, das schwere Gewicht der Erfahrung relativiert.“[3] In zwei Punkten seien die Erfahrungen, die Améry machen musste, extremer als die Levis gewesen: Améry war der Folter ausgesetzt, und die Täter waren die eigenen Landsleute, es gab für ihn keine Heimkehr. Améry war in Denken und Existenz „rückhaltloser“ als Levi.
Auffallend ist das starke Nachlassen der Rezeption Amérys im Kontext der Holocaustforschung der 1990er Jahre bis in die Gegenwart. Zwar erscheint seit 2002 bei Klett-Cotta eine Werkausgabe, doch gilt weiterhin, was Heidelberger-Leonard zur Rezeption feststellt, dass nämlich „Primo Levi den Diskurs über Auschwitz heute noch begleitet, während Amérys Werke, die erst die Möglichkeit für diesen Diskurs geschaffen haben, in ihn so eingegangen sind (auch wenn man sich von ihnen absetzt), dass man sich nicht mehr genötigt sieht, sich namentlich auf ihn zu beziehen. Die Rollen haben sich also gewissermaßen vertauscht: Konnte Améry 1965 in Deutschland mit seinen so weit in die Zukunft reichenden Prognosen (Bitburg, Historikerstreit, Wehrmacht-Ausstellung, Walser-Bubis-Debatte) einen ästhetischen Mehrwert in Sachen Auschwitz für sich in Anspruch nehmen, so ist er der heutigen Holocaust-Kultur wieder abhanden gekommen.“[4]
Améry sah sich mit einer gesellschaftlich immer manifester werdenden Tendenz konfrontiert, sich mit der Vergangenheit ins Einvernehmen zu setzen, sie eben zu ‚bewältigen‘. Jan Philipp Reemtsma gibt eben dieser gesellschaftlichen Realität die Schuld am Selbstmord Amérys.
(GB)