Glossar

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Jean Améry und Primo Levi

 a  „In welchem Verhältnis die beiden damals zueinander standen, ist heute nicht mehr mit Sicherheit herauszufinden. Jedenfalls scheinen sie im Verlauf dieses Jahres kaum mehr, als die horrenden Umstände es zuließen, Notiz voneinander genommen zu haben. Levi kann sich später an das Aussehen Amérys nicht mehr erinnern, obschon sich Auschwitz ihm, wie er verschiedentlich hervorhebt, mit allen Einzelheiten unauslöschlich ins Gedächtnis eingegraben hat. Améry wiederum behauptet Levi gegenüber, ihn in deutlicher Erinnerung zu haben. Diese Konstellation ist bezeichnend für die bei den Opfern der Verfolgung in vielfacher Abwandlung auftretende Koinzidenz von Hypermnesie und Amnesie. Sicher ist jedenfalls, daß Améry und Levi einander nach der Befreiung zunächst ganz aus den Augen verloren und daß sie erst aus dem Anlaß der Veröffentlichung ihrer Bücher einige Briefe wechselten. […] Zu einer Begegnung zwischen Améry und Levi ist es nicht mehr gekommen, aber Levi bezeichnete Améry in I sommersi e i salvati, das nach dem Tod Amérys geschrieben wurde, als seinen potentiellen Freund und geschätzten Gesprächspartner.“ 

(W.G. Sebald: Jean Améry und Primo Levi. In: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): Über Jean Améry. Heidelberg: Winter 1990, S. 115–123, hier S. 117.)

 

 b  „Was nun die konkreten Erfahrungen angeht, so mögen diejenigen Amérys in ein, zwei Punkten tatsächlich extremer noch gewesen sein als diejenigen Levis. Nicht nur war Améry, was Levi agnostiziert, durch Folter alles Weltvertrauen zerbrochen worden, sondern es waren für ihn Verfolgung und Vertreibung möglicherweise auch deshalb traumatischer, weil deren Agenten in seinem Fall ja die eigenen Landsleute waren. […] Jedenfalls war es für Levi gewissermaßen eine natürliche Sache, nach seiner Odyssee nach Turin, nachhause zurückzukehren. Für Améry ist eine derartige Rückkehr nach Wien oder Salzburg ausgeschlossen gewesen. Die Zerstörung der Heimat war ein Thema, über das Améry viel nachzudenken hatte, Levi hingegen nicht. Améry ist also sowohl in seinem Denken, als in seiner Existenz rückhaltloser gewesen, und darum griff Levi etwas kurz, als er in der Intransigenz der Einstellung Amérys wo nicht die Ursache, so doch eine der Ursachen für sein Ende ausweisen zu können glaubte.“

(W.G. Sebald: Jean Améry und Primo Levi. In: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): Über Jean Améry. Heidelberg: Winter 1990, S. 115–123, hier S. 118–119.)

 

 c  „Machen wir uns nichts vor. Das Zerstörungswerk ist getan. Die deutsche (und, wenn ich recht unterrichtet bin, auch die österreichische) Politik nach 1945 läßt sich auf den von Ralph Giordano geprägten Begriff von der ‚zweiten Schuld‘ bringen. Und Jean Améry starb nicht im Konzentrationslager, sondern in Österreich und an der Bundesrepublik Deutschland, nicht übrigens an ihrer politischen Linken und, nota bene, nicht in ihr. Die Sozietät, die erst den Bestand des Individuums angegriffen hat, gewährt den Wiedereintritt um den Preis der gänzlichen Selbstaufgabe.“

(Jan Philipp Reemtsma: 172364: Gedanken über den Gebrauch der ersten Person Singular bei Jean Améry. In: Stephan Steiner (Hg.): Jean Améry (Hans Maier). Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld 1996, S. 63–86, hier S. 82.)

Das Verhältnis zwischen Jean Améry und Primo Levi, dessen Überlebensbericht Ist das ein Mensch? bereits 1961 in Deutschland erschien, also fünf Jahre vor Amérys Jenseits von Schuld und Sühne, war ein angespanntes. Dies sei nicht zuletzt darauf zurückzuführen, so die Améry-Biographin Irene Heidelberger-Leonard, dass Levi Améry gewissermaßen schon „die Schau gestohlen“ hatte. Améry nannte Levi in privaten Korrespondenzen einen „Verzeiher“ und machte ihm den Vorwurf der Versöhnlichkeit, wohingegen Levi Amérys unerbittliche Position kritisierte und Amérys Essay „An den Grenzen des Geistes“ als „bitteren und kaltschnäuzigen Aufsatz“[1] empfand. Er unterstellte ihm mangelnde Freude am Leben. Améry und Levi standen als Schriftstellerkollegen in unregelmäßigen Briefkontakt, begegneten sich aber nach ihrer Lagerzeit nicht mehr persönlich.  a  Ihren unregelmäßigen Briefwechsel nahmen beide Männer auf Anregung einer Leserin Levis auf, die auch den Kontakt zwischen beiden herstellte.

 

Wo Levis Bericht über seine Zeit im KZ Buna/Monowitz einer klaren Chronologie folgt, die sich an Dantes Höllenreise anlehnt, da weist Améry jegliche stringente Narration weit von sich, reduziert dokumentarische Beschreibungen aufs äußerste und ist im Ton unerbittlich.[2] W.G. Sebald machte die Differenzen zwischen beiden an den Erfahrungsunterschieden fest: „Die Vorstellung, Améry sei der Unerbittlichkeit seines eigenen Denkens zum Opfer gefallen, kann vor allem deshalb nicht überzeugen, weil sie, aus Vorsatz gewiß nicht, sondern aus einer defensiven Haltung heraus, das schwere Gewicht der Erfahrung relativiert.“[3] In zwei Punkten seien die Erfahrungen, die Améry machen musste, extremer als die Levis gewesen: Améry war der Folter ausgesetzt, und die Täter waren die eigenen Landsleute, es gab für ihn keine Heimkehr. Améry war in Denken und Existenz „rückhaltloser“ als Levi.  b 

 

Auffallend ist das starke Nachlassen der Rezeption Amérys im Kontext der Holocaustforschung der 1990er Jahre bis in die Gegenwart. Zwar erscheint seit 2002 bei Klett-Cotta eine Werkausgabe, doch gilt weiterhin, was Heidelberger-Leonard zur Rezeption feststellt, dass nämlich „Primo Levi den Diskurs über Auschwitz heute noch begleitet, während Amérys Werke, die erst die Möglichkeit für diesen Diskurs geschaffen haben, in ihn so eingegangen sind (auch wenn man sich von ihnen absetzt), dass man sich nicht mehr genötigt sieht, sich namentlich auf ihn zu beziehen. Die Rollen haben sich also gewissermaßen vertauscht: Konnte Améry 1965 in Deutschland mit seinen so weit in die Zukunft reichenden Prognosen (Bitburg, Historikerstreit, Wehrmacht-Ausstellung, Walser-Bubis-Debatte) einen ästhetischen Mehrwert in Sachen Auschwitz für sich in Anspruch nehmen, so ist er der heutigen Holocaust-Kultur wieder abhanden gekommen.“[4]

 

Améry sah sich mit einer gesellschaftlich immer manifester werdenden Tendenz konfrontiert, sich mit der Vergangenheit ins Einvernehmen zu setzen, sie eben zu ‚bewältigen‘. Jan Philipp Reemtsma gibt eben dieser gesellschaftlichen Realität die Schuld am Selbstmord Amérys.  c 

(GB)



Literatur

Améry, Jean: Werke. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002

Heidelberger-Leonard, Irene: Jean Améry. Revolte in der Resignation. Stuttgart: Klett-Cotta 2004.

Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. München/Wien: Hanser 1991.

Reemtsma, Jan Philipp: 172364: Gedanken über den Gebrauch der ersten Person Singular bei Jean Améry. In: Stephan Steiner (Hg.): Jean Améry (Hans Maier). Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld 1996, S. 63–86.

Sebald, W.G.: Jean Améry und Primo Levi. In: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): Über Jean Améry. Heidelberg: Winter 1990,S. 115–123.

[1] Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München/Wien: Hanser 1991, S. 134.

[2] Beispielsweise im Vorwort zur Neuausgabe von 1977: „Die Opfer sterben weg, es ist gut so, sie sind überzählig, seit langem schon.“ (Jean Améry: Werke. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 15.)

[3] W.G. Sebald: Jean Améry und Primo Levi. In: Irene Heidelberger-Leonard: Über Jean Améry. Heidelberg: Winter 1990,S. 115–123, hier S. 118.

[4] Irene Heidelberger-Leonard: Jean Améry. Revolte in der Resignation. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 102.