Glossar

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Norbert Wollheim (1913–1998)

Norbert Wollheim, o.J.'© Fritz Bauer Institut
Norbert Wollheim, o.J.
© Fritz Bauer Institut

 a  In der Urteilsbegründung bewertete das Gericht auch die Entlastungszeugen von I.G.-Farben, die einen negativen Eindruck hinterlassen hatten:

„Das Gericht will auch nicht verschweigen, daß die zunächst vernommenen Zeugen der Beklagten […] im allgemeinen keinen guten Eindruck auf es gemacht haben. Diese Zeugen waren es, die versuchten, alles abzustreiten, sich mit Nichtwissen oder Unzuständigkeit zu entschuldigen oder abwegige theoretische Ausführungen zu machen oder sich angesichts des Unglücks und Todes von vielen Tausenden von Menschen, ihrer Mitarbeiter, auf hässliche Ausflüchte wie z.B. ‚das war nicht mein Ressort‘ zurückzuziehen oder sogar unverständliche, jedenfalls unmenschliche und auch sachlich unrichtige Berechnungen anzustellen [...] Mit dem Nichtwissen der Beklagten verhalte es sich im übrigen wie es wolle: Aus den erwähnten Aussagen der Zeugen der Beklagten folgert die Kammer in jedem Fall eine entsetzliche Gleichgültigkeit der Beklagten und ihrer Leute gegenüber dem Kläger und den gefangenen Juden, eine Gleichgültigkeit, die nur dann verständlich ist, wenn man mit dem Kläger unterstellt, die Beklagte und ihre Leute hätten damals den Kläger und die jüdischen Häftlinge tatsächlich nicht für vollwertige Menschen gehalten, denen gegenüber eine Fürsorgepflicht bestand.“

(Urteil im Wollheim Prozess, 10. Juni 1953. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. III, Bl. 446–488, Bl. 480–481.)

 

 b  Otto Küster, der zweite Anwalt Wollheims, in seinem Schlussplädoyer (1.3.1955):

„Aber dieses Rechtsverhältnis wird bestimmt von erheblich mehr Umständen als bloß davon, ob der Kläger Schläge erhalten und Körperbeschädigungen davongetragen hat. Es wird bestimmt durch die Hölle von Auschwitz als solche, aus deren Hintergrund die Kamine nicht Wegzuzaubern sind. Es wird bestimmt durch die unüberhörbare Pflicht zum menschlichen Handeln, die den trifft, der in der Hölle, ohne zu den Verdammten zu gehören, vielmehr auf der anderen Seite, mitschuftet. Es wird im einzelnen bestimmt durch alles, was Leute der Bekl. zwar nicht dem Kläger, aber seinen Mithäftlingen zugefügt haben. Es wird bestimmt durch alles, was Leute der Bekl. und vornehmlich ihr Vorstand den Mithäftlingen des Klägers, aber auch ihm selbst gegenüber an Erzeigung von Menschlichkeit, an Erfüllung ihrer Bekümmerungspflicht, unterlassen haben. Es wird schliesslich bestimmt durch das, was der Kläger samt allen seinen Mithäftlingen in der Taghälfte der Hölle von Auschwitz auszustehen hatte an Angst und Pein. Die Bekl. hat viel, allzuviel gesprochen und geschrieben, um ihre Mitverantwortung für das, was bei Auschwitz IG gelitten wurde, abzuschütteln. Sie hat, wie es dem zu gehen pflegt, der eine im Kern nicht haltbare Sache verficht nach langen, sorgfältigen Ausführungen schliesslich so erschreckende Behauptungen vorgebracht, wie die, bei der Versklavung des Klägers handle es sich um einen Fall ‚der allgemeinen und gleichen Erfassung zur Leistung von Diensten im öffentlichen Interesse‘ (II 111), und die Beklagte hätte ‚im Hinblick auf die für alle Staatsbürger einschliesslich der Frauen bis zu 45 Jahren bestehende Arbeitspflicht in der gröblichsten Weise gegen das Anstandsgefühl aller rechtlich Denkenden verstossen, wenn sie dem Staat gegenüber die Beschäftigung von Häftlingen aus staatlichen Konzentrationslagern abgelehnt hätte‘ (II 113). Wollte doch Herr Dr. Dürrfeld einen Augenblick lang sich seine Empfindungen ausmalen, wenn er eines morgens erfahren hätte, er sei Eigentum des Reiches geworden, und des zum Zeichen werde er jetzt mit dem Brennstempel eine Nummer eingebrannt erhalten. […] Es wäre viel daran gelegen, daß gerade die Beklagte eingesehen hätte, was ja das deutsche Volk als Ganzes in der Wiedergutmachungsgesetzgebung auch einzusehen sich entschlossen hat: man ist ganz gewiß ohne viel eigene Bosheit da hineingeraten, ohne mehr Bosheit, als den Menschenherzen durchschnittlich und von Natur eben innewohnt – aber diese Gefühl der eigenen Harmlosigkeit ändert doch nichts daran, daß das entsetzlichste Unrecht im deutschen Namen begangen wurde, und ändert im Fall dieser Beklagten nichts daran, daß ein Werk der IG den Namen des Ortes trug, der – es sei denn, die bisherige Geschichte habe ein Ende – in die Jahrhunderte hinaus als der Ort der irdischen Hölle bekannt bleiben wird. Sie hat sich nicht ermannen können, daraus die Konsequenz zu ziehen, die Konsequenz, mit der unter Menschen Unrecht gesühnt wird. So war es meine Aufgabe, unter absichtlicher Isolierung einer Position einen ergänzenden Nachweis dafür zu führen, daß nun zunächst einmal der heute verhandelte Klageanspruch begründet ist: daß nach einer Grundvorschrift unseres alltäglichen bürgerlichen Gesetzbuches für einen bis auf unsere Tage ganz und gar außeralltäglichen Schaden Entschädi­gung geschuldet wird, und zwar diesem Kläger von diesem Beklagten.“

(Otto Küster: Plädoyer im Wollheim Prozess, 1.3.1955. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Anlage-Bd. II, 26 Seiten, S. 24–25.)

„Das, was man für sich selbst tut, ist nicht genug. Man muss versuchen, sich auch um Leute zu kümmern, die weniger Glück haben als man selbst, und Hilfe und Unterstützung brauchen.“  

 

Norbert Wollheim wurde am 26. April 1913 in Berlin als Sohn von Moritz Wollheim und seiner Frau Elsa (geb. Cohn) geboren. Drei Jahre zuvor war bereits seine Schwester Ruth zur Welt gekommen, sie wuchsen in einer assimilierten jüdischen Familie auf. Nach seiner Bar Mitzwa trat er der Jüdischen Jugendbewegung bei und engagierte sich in deren sozialer Arbeit. Nach dem Abitur im Jahr 1931 studierte Norbert Wollheim Jura in Berlin, er wollte Rechtsanwalt werden. Doch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste er das Studium aufgeben. Ab 1935 arbeitete er daher in einer Firma für Eisen- und Manganerzhandel. Im Sommer 1938 heirateten Norbert Wollheim und Rosa Mandelbrod. Nach dem 10. November 1938 gab es für 10.000 jüdische Kinder die Möglichkeit zur Ausreise: Mit den „Kindertransporten“ gelang es, bis Ende August 1939 6.–7.000 jüdische Kinder aus Deutschland nach Großbritannien (und nach Schweden) zu retten, einige weitere tausend konnten aus Österreich auswandern. Norbert Wollheim arbeitete fast rund um die Uhr für die Organisation dieser Kindertransporte in der Reichsvertretung der Juden in Deutschland. Die Arbeit war nicht nur physisch anstrengend, sondern auch psychisch: Die Organisatoren der Kindertransporte mussten nicht allein die abreisenden Kinder betreuen, sondern auch den Angehörigen Trost spenden.

 

Als nach Kriegsbeginn im September 1939 die Auswanderung nahezu unmöglich wurde, ließ sich Wollheim zum Schweißer ausbilden, bis er in Folge der „Fabrikaktion“ im März 1943 mit seiner Familie verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. An der Rampe wurden Rosa und ihr dreijähriger Sohn Uriel ins Gas geschickt, Norbert Wollheim kam zur Zwangsarbeit ins KZ Buna/Monowitz. Ab Juni 1943 wurde er einem Metallfacharbeiterkommando als Schweißer zugewiesen, aus dieser Position konnte er Mithäftlingen helfen. Der Todesmarsch führte Norbert Wollheim ab Januar 1945 drei Monate durch Winter und Hunger, bis er im April gemeinsam mit zwei Freunden floh und von amerikanischen Soldaten bei Schwerin befreit wurde.

 

Norbert Wollheim ließ sich in Lübeck nieder und begann unmittelbar nach Kriegsende, sich als stellvertret ender Vorsitzender des Zentralkomitees der befreiten Juden in der Britischen Zone für die Displaced Persons einzusetzen. Zudem war er maßgeblich am Wiederaufbau eines jüdischen Gemeindelebens in Deutschland beteiligt, obwohl er für sich selbst beschlossen hatte, in Deutschland nicht bleiben zu wollen. Er heiratete im Jahr 1947 erneut, mit seiner Frau Friedel (geb. Löwenberg) hatte er zwei Kinder. Norbert Wollheim sagte in mehreren Nachkriegsprozessen als Zeuge aus, so 1947 im Nürnberger Prozess gegen I.G. Farben, 1949 im Harlan-Prozess. Daneben trat er mit Zeitungsartikeln und öffentlichen Reden für ein Gedenken an die Ermordeten ein und versuchte, zu einem Wandel des öffentlichen Bewusstseins in Deutschland  beizutragen. 1950 begann er seinen eigenen Kampf um Entschädigung: Mit seinem Anwalt Henry Ormond reichte er im November 1951 Klage gegen I.G. Farben beim Landgericht Frankfurt/Main ein. Das Urteil vom 10. Juni 1953 gab Norbert Wollheim in allen Punkten recht und verurteilte I.G. Farben zur Zahlung von 10.000 DM.  a  Im folgenden Berufungsverfahren kam es im Februar 1957 zu einer außergerichtlichen Einigung: I.G. Farben zahlte 30 Millionen DM an die Überlebenden von I.G. Auschwitz.  b  Norbert Wollheim war bereits 1951 in die USA emigriert, wo er als Wirtschaftsprüfer arbeitete. Er starb 1998 in New York.

(SP)



Quellen

Norbert Wollheim, Interview mit Nikolaus Creutzfeldt [Eng.], New York 1986–88 (Heinlyn Productions; produziert von Leslie C. Wolf). Archiv des Fritz Bauer Instituts, Transkript.

Norbert Wollheim, First Interview [Eng.], 10.5.1991. United States Holocaust Memorial Museum, Transkript.

Norbert Wollheim, Second Interview [Eng.], 17.5.1991. United States Holocaust Memorial Museum, Transkript.

Div. Dokumente aus: HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. II.

 

Literatur

Harris, Mark J. / Oppenheimer, Deborah: Kindertransport in eine fremde Welt. München: Goldmann 2000.

Jochims-Bozic, Sigrun: Lübeck ist nur eine kurze Station auf dem jüdischen Wandersweg. Jüdisches Leben in Schleswig-Holstein 1945–1950. Berlin: Metropol 2004.

Norbert Wollheim, zit. n. Mark J. Harris / Deborah Oppenheimer: Kindertransport in eine fremde Welt. München: Goldmann 2000, S. 130.