Glossar

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Überlebensstrategien

 a  “In this the Germans’ psychological methods often failed. They tried to get the inmates to think only of themselves, to forget relatives and friends, to tend only to their own needs, unless they wanted to become ‘Mussulmen.’ But what happened was just the reverse. Those who retreated to a universe limited to their own bodies had less chance of getting out alive, while to live for a brother, a friend, an | ideal, helped you hold out longer. As for me, I could cope thanks to my father. Without him I could not have resisted. I would see him coming with his heavy gait, seeking a smile, and I would give it to him. He was my support and my oxygen, as I was his.”

(Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 80–81.)

„Wenn man versuchen wollte zu überleben, mußte man sich anpassen, sofern man dazu fähig war. Dies war nicht der Fall bei denen, deren Persönlichkeit bei ihrer Ankunft stark ausgeprägt war. Männer von vierzig, die eine gesellschaftliche Stellung hatten, einen Sinn für Würde, Männer, die nicht hinnehmen konnten, daß mit uns, den Unteren, nur durch Beschimpfungen und Schläge kommuniziert wurde.“[1]

 

Das Überleben unter den extremen Bedingungen des Konzentrationslagers hing für einen Häftling vor allem von seiner Anpassungsfähigkeit und großem Glück sowie der Unterstützung durch höhergestellte Mithäftlinge und von seinem Erfindungsreichtum ab.

 

Wer es nicht in den ersten Wochen des Lageraufenthaltes schaffte, sich dem Regelsystem des Lagers anzupassen, endete in Birkenau. Nur wenige konnten isoliert von der Gruppe der Häftlinge überleben. Viele versuchten, durch die gegenseitige Hilfe mit Verwandten, einem oder mehreren Freunden durchzukommen.  a  Verhältnismäßig einfacher hatten es mehr oder weniger fest organisierte Gruppen, etwa kommunistische Widerstandskämpfer oder religiöse sowie lokale oder sprachliche Gemeinschaften. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe hatte auch Einfluss auf die Überlebenschancen des Einzelnen: für Juden oder Russen, die innerhalb der „NS-Rassenhierarchie“ auf der untersten Stufe standen, war es beinahe unmöglich, eine der rettenden Funktionen zu bekommen. Dagegen erhielt, wer „deutscher Nationalität war, […] mehr oder weniger ohne eigenes Zutun irgendeine Funktion innerhalb der Häftlingsselbstverwaltung. Sein Überleben war damit, ließ er sich nichts Außergewöhnliches zuschulden kommen, relativ gesichert, sogar ohne Zugehörigkeit zu einer der einflußreichen Gruppierungen“[2].

 

Für die Mehrheit der ‚einfachen‘ Häftlinge ohne Position waren die Möglichkeiten beschränkter: Einzelne fielen den Kapos durch ein sauberes Erscheinungsbild oder gesteigertes Arbeitspensum positiv auf und bekamen dadurch eine Funktion. Andere versuchten, sich unter großem persönlichen Risiko zusätzliche Nahrung oder Tauschmittel zu „organisieren“, also etwa auf der Baustelle Essensreste von Zivilarbeitern zu erbetteln, Material von den I.G. Farben oder Nahrungsmittel in der Küche zu stehlen. Blockälteste waren z.B. verpflichtet, den Häftlingen Schmierfett zum Einfetten der Pantinen zur Verfügung zu stellen; dieses ließen sie sich gegen Suppe oder Brot von Häftlingen „organisieren“. Darüber hinaus konnten Häftlinge ihre Arbeitskraft oder bestimmte Fertigkeiten verkaufen, also etwa als Blockfriseur Haare abrasieren, das Bett für einen oder mehrere Mithäftlinge „bauen“, als Schuster Schuhe flicken oder gar kunsthandwerkliche Fähigkeiten einem Kapo oder der SS zur Verfügung stellen. In einzelnen Fällen gelang es Häftlingen, von Funktionshäftlingen protegiert zu werden; diese unterstützten sie dann mit zusätzlicher Nahrung und dem Schutz vor zahlreichen Risiken des Lagerlebens. Oft handelte es sich bei den Protegierten um junge Häftlinge, denen Funktionshäftlinge aus Freundlichkeit halfen; in zahlreichen Fällen wurden von den Jungen jedoch sexuelle Gegenleistungen erwartet.

 

Schwieriger war es für KZ-Häftlinge, Kontakte zu Zivilarbeitern oder britischen Kriegsgefangenen vor allem auf der Baustelle der I.G. Auschwitz zu knüpfen. Vielen Zivilarbeitern war der Anblick der Häftlinge unangenehm, oder sie hatten einfach Angst vor dem verbotenen Kontakt zu ihnen. War dieser erst einmal geknüpft, ermöglichten die damit verbundenen Hilfeleistungen (Nahrung, Kleidung, Briefverkehr, Zigaretten oder Informationsübermittlung) den Häftlingen oftmals das Überleben.

 

Neben rein körperlichen Bedürfnissen verlangte das KZ den Häftlingen eine enorme psychische Stärke ab: meist getrennt von Familie und Freunden, deren Tod sie häufig hatten miterleben müssen, oder im Ungewissen über ihr Schicksal, der persönlichen Würde beraubt und in ständiger Angst vor Misshandlungen und Tod mussten die Häftlinge versuchen, nicht aufzugeben und den Lebenswillen zu behalten. Einige Männer trafen sich trotz der extremen körperlichen Belastung in politischen Widerstandsgruppen oder religiösen Zusammenkünften, die in ihnen das Gefühl, ein Mensch zu sein, aufrecht erhielten. Wiederum andere Häftlinge berichten von Gesprächen über Kultur und Geschichte als Überlebenselixier. Auch dies konnte, obgleich kräftezehrend, eine Überlebenshilfe sein.

(SP)



Quellen

Benjamin Grünfeld, Lebensgeschichtliches Interview [Schw.], 12.1.2008. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.

Siegmund Kalinski, Lebensgeschichtliches Interview [Dt.], 11.9.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.

 

Literatur

Kleinmann, Fritz: Überleben im KZ. In: Reinhold Gärtner / Fritz Kleinmann (Hg.): Doch der Hund will nicht krepieren… Tagebuchnotizen aus Auschwitz. Thaur: Kulturverlag 1995, S. 34–114.

Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961.

Steinberg, Paul: Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Moshe Kahn. München: Hanser 1998.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.

Wiesel, Elie: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996.

[1] Paul Steinberg: Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Moshe Kahn. München: Hanser 1998, S. 51.

[2] Bernd C. Wagner: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000, S. 137.