Überlebensstrategien
(Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 80–81.)
„Wenn man versuchen wollte zu überleben, mußte man sich anpassen, sofern man dazu fähig war. Dies war nicht der Fall bei denen, deren Persönlichkeit bei ihrer Ankunft stark ausgeprägt war. Männer von vierzig, die eine gesellschaftliche Stellung hatten, einen Sinn für Würde, Männer, die nicht hinnehmen konnten, daß mit uns, den Unteren, nur durch Beschimpfungen und Schläge kommuniziert wurde.“[1]
Das Überleben unter den extremen Bedingungen des Konzentrationslagers hing für einen Häftling vor allem von seiner Anpassungsfähigkeit und großem Glück sowie der Unterstützung durch höhergestellte Mithäftlinge und von seinem Erfindungsreichtum ab.
Wer es nicht in den ersten Wochen des Lageraufenthaltes schaffte, sich dem Regelsystem des Lagers anzupassen, endete in Birkenau. Nur wenige konnten isoliert von der Gruppe der Häftlinge überleben. Viele versuchten, durch die gegenseitige Hilfe mit Verwandten, einem oder mehreren Freunden durchzukommen.
Für die Mehrheit der ‚einfachen‘ Häftlinge ohne Position waren die Möglichkeiten beschränkter: Einzelne fielen den Kapos durch ein sauberes Erscheinungsbild oder gesteigertes Arbeitspensum positiv auf und bekamen dadurch eine Funktion. Andere versuchten, sich unter großem persönlichen Risiko zusätzliche Nahrung oder Tauschmittel zu „organisieren“, also etwa auf der Baustelle Essensreste von Zivilarbeitern zu erbetteln, Material von den I.G. Farben oder Nahrungsmittel in der Küche zu stehlen. Blockälteste waren z.B. verpflichtet, den Häftlingen Schmierfett zum Einfetten der Pantinen zur Verfügung zu stellen; dieses ließen sie sich gegen Suppe oder Brot von Häftlingen „organisieren“. Darüber hinaus konnten Häftlinge ihre Arbeitskraft oder bestimmte Fertigkeiten verkaufen, also etwa als Blockfriseur Haare abrasieren, das Bett für einen oder mehrere Mithäftlinge „bauen“, als Schuster Schuhe flicken oder gar kunsthandwerkliche Fähigkeiten einem Kapo oder der SS zur Verfügung stellen. In einzelnen Fällen gelang es Häftlingen, von Funktionshäftlingen protegiert zu werden; diese unterstützten sie dann mit zusätzlicher Nahrung und dem Schutz vor zahlreichen Risiken des Lagerlebens. Oft handelte es sich bei den Protegierten um junge Häftlinge, denen Funktionshäftlinge aus Freundlichkeit halfen; in zahlreichen Fällen wurden von den Jungen jedoch sexuelle Gegenleistungen erwartet.
Schwieriger war es für KZ-Häftlinge, Kontakte zu Zivilarbeitern oder britischen Kriegsgefangenen vor allem auf der Baustelle der I.G. Auschwitz zu knüpfen. Vielen Zivilarbeitern war der Anblick der Häftlinge unangenehm, oder sie hatten einfach Angst vor dem verbotenen Kontakt zu ihnen. War dieser erst einmal geknüpft, ermöglichten die damit verbundenen Hilfeleistungen (Nahrung, Kleidung, Briefverkehr, Zigaretten oder Informationsübermittlung) den Häftlingen oftmals das Überleben.
Neben rein körperlichen Bedürfnissen verlangte das KZ den Häftlingen eine enorme psychische Stärke ab: meist getrennt von Familie und Freunden, deren Tod sie häufig hatten miterleben müssen, oder im Ungewissen über ihr Schicksal, der persönlichen Würde beraubt und in ständiger Angst vor Misshandlungen und Tod mussten die Häftlinge versuchen, nicht aufzugeben und den Lebenswillen zu behalten. Einige Männer trafen sich trotz der extremen körperlichen Belastung in politischen Widerstandsgruppen oder religiösen Zusammenkünften, die in ihnen das Gefühl, ein Mensch zu sein, aufrecht erhielten. Wiederum andere Häftlinge berichten von Gesprächen über Kultur und Geschichte als Überlebenselixier. Auch dies konnte, obgleich kräftezehrend, eine Überlebenshilfe sein.
(SP)