Glossar

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Häftlingsverwaltung

 a  „Jeder Häftling war einem Arbeitskommando auf verschiedenen Bauabschnitten im Bunawerk zugeteilt. Als eine Kommission des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) aus Berlin die Bunawerke besichtigte, beanstandeten die hohen SS-Führer bei Lagerführer Schöttl, daß sie viele Juden sähen, die als Vorarbeiter arbeiteten. Schöttl verwies darauf, daß er zuwenige Arier im Lager habe und daher auch Juden als Vorarbeiter einsetzen müsse. Einige Tage später tauchte Aumeier, der Lagerführer von Auschwitz, im Lager auf. Beim Abendappell wurde einer Gruppe von Buchenwaldern und Sachsenhausenern der Judenstern abgenommen. Sie wurden dadurch ‚arisiert‘ und bekamen rote Winkel. Damit wurden sie den ‚arischen‘ Häftlingen gleichgestellt. Als Juden waren sie ins KZ gekommen, als ‚Arier‘ blieben sie weiterhin im Lager. Allerdings bedeutete keinen Judenstern zu tragen eine wesentliche Erleichterung. Und bei dieser Gruppe war auch mein Vater.“
(Kleinmann, Fritz: Überleben im KZ. In: Reinhold Gärtner / Fritz Kleinmann (Hg.): Doch der Hund will nicht krepieren… Tagebuchnotizen aus Auschwitz. Thaur: Kulturverlag 1995, S. 34–114, hier S. 71–72.)

SS und I.G. Farben bedienten sich zur Kontrolle und Organisation der tausende Häftlinge im KZ Buna/Monowitz und auf der Baustelle der I.G. Auschwitz einer aus Häftlingen gebildeten Lagerverwaltung und Arbeitsorganisation. Die Positionen in der Lagerverwaltung waren streng hierarchisch gegliedert. Die so eingesetzten Häftlinge wurden als Funktionshäftlinge bezeichnet, in der Lagersprachemanchmal auch als „Prominente“.

 

Funktionshäftlinge waren vor allem als „Asoziale“ (schwarzer Winkel) und „Kriminelle“ (grüner Winkel) Inhaftierte. Viele der „Grünwinkel“ kamen zum Aufbau des KZ Buna/Monowitz aus dem Stammlager Auschwitz. Aber auch politische Häftlinge (roter Winkel) nahmen Funktionen in der Lagerverwaltung und im Krankenbau ein. Einer größeren Zahl deutscher und österreichischer politischer Häftlinge aus Buchenwald und Sachsenhausen, die bereits im Oktober 1942 ins KZ Buna/Monowitz kamen, gelang es, einige einflussreiche Posten zu besetzen. Mit Anwachsen des Lagers wurden neben Deutschen auch Polen Funktionshäftlinge. Manchmal wurden jüdische Häftlinge „arisiert“ und galten fortan als politische Häftlinge, damit sie in der Häftlingsverwaltung Funktionen einnehmen konnten.  a  Gegen Ende des Bestehens des KZ Buna/Monowitz konnten schließlich vereinzelt auch jüdische Häftlinge Funktionen in der Lagerverwaltung oder als Kapos einnehmen; dies unterscheidet Buna/Monowitz von anderen KZ. Doch konnten jüdische Häftlinge nur für Blocks oder Kommandos mit ausschließlich jüdischen Häftlingen Vorgesetzte sein. So schlug sich auch in der Häftlingsverwaltung die NS-Rassenideologie nieder.

 

Zunächst wurde die Besetzung von Funktionsposten durch die SS, später durch die Lagerprominenz vorgenommen. Dadurch konnten Freunde oder Mitglieder von Widerstandsgruppen geschützt werden. Gerade in der Schreibstube und im Krankenbau wurden auch jüdische Häftlinge als Funktionshäftlinge eingesetzt, da hier eine spezielle Ausbildung oder Sprachkenntnisse verlangt waren, über die „Grünwinkel“ meist nicht verfügten. Mit der zunehmenden Zahl unterschiedlicher Häftlingsnationalitäten und –sprachen wurde die Verwaltung des Lagers immer komplexer. Damit wuchs der Handlungsspielraum der Häftlingsschreiber, Einfluss auf die Lebenschancen anderer Häftlinge zu nehmen. Dies war mit einem hohen Risiko verbunden, da schon ein Verdacht von Seiten der SS tödlich sein konnte.

 

Die Häftlinge unterlagen immer einer doppelten Verpflichtung, sowohl gegenüber den ihnen Vorgesetzten in der Häftlingshierarchie, als auch gegenüber jedem SS-Mann. Die SS verstrickte die Funktionshäftlinge in das von ihr in den KZ installierte Herrschaftssystem, das auf der willkürlichen Gewaltanwendung durch Höherrangige und der Abwesenheit verlässlicher Normen basierte, die den einfachen Häftlingen eine Sicherheit in ihrem Alltagsverhalten hätten geben können. Funktionshäftlinge im Lager und Kapos auf der Baustelle wurden eingesetzt, um die Häftlinge zu disziplinieren und zur Arbeit anzutreiben und so der SS Wachaufwand zu sparen. Überlebende berichten, gerade in der Anfangszeit des KZ Buna/Monowitz seien viele Funktionshäftlinge, u.a. der Lagerälteste Josef Windeck, sehr brutal vorgegangen.

 

Die Funktionshäftlinge waren formal rechtlos, wie alle KZ-Häftlinge, hatten praktisch aber eine weitreichende Verfügungsgewalt über die anderen Häftlinge inne. Ein Kapo konnte einen einfachen Häftling straflos misshandeln oder gar töten, die SS duldete diese Gewaltanwendung und ermutigte dazu. Nur wenn ein Funktionshäftling, mit oder ohne sein Wissen, bei der ‚Bestrafung‘ von Häftlingen mit Interessen der SS in Konflikt geriet, lief er Gefahr, für seine Gewaltausübung plötzlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Es kam auch vor, dass Häftlinge besonders brutale Schläger oder Spitzel der SS selbst zur Rechenschaft zogen. Viele Kapos misshandelten Häftlinge, zugleich aber waren sie nicht die Verursacher des Systems, indem sie sich bewegten. Die unterschiedlichen Berichte Überlebender des KZ Buna/Monowitz zeigen, wie sehr der konkrete Umgang mit den einzelnen Häftlingen  von der Persönlichkeit eines Funktionshäftlings abhing – er konnte brutal, willkürlich oder hilfsbereit sein. Doch reichten einige brutale Funktionshäftlinge aus, um die Atmosphäre der Angst, welche den Alltag im KZ prägte, zu verstärken.

 

Ihre Position verschaffte den Funktionshäftlingen zahlreiche Vorteile, sie lebten unvergleichlich besser als die Masse der Häftlinge. Sie waren entweder in separaten Räumen der Blocks oder in eigenen Blocks mit viel niedriger Belegung als die Häftlingsbaracken untergebracht. Auch konnten sie sich durch ihre Stellung in der Häftlingshierarchie ein Netz sozialer Abhängigkeiten schaffen, das der Beschaffung besserer Kleidung aus „Kanada“, guten Essens oder auch der Erpressung sexueller Dienste von jungen Häftlingen dienen konnte. Die Mehrheit der Funktionshäftlinge nutzte ihre Position wohl vor allem, um das eigene Überleben zu sichern. Doch ließen manche auch andere Häftlinge leiden, um ihre Position gegenüber der SS zu wahren; während andere versuchten, auch einfachen Häftlingen das Überleben zu ermöglichen.

(MN) 



Quelle 

[Posener, Curt]: Zur Geschichte des Lagers Auschwitz-Monowitz (BUNA). Unveröffentlichtes Manuskript, undatiert, 53 Seiten. Archiv des Fritz Bauer Instituts.

 

Literatur 

Kleinmann, Fritz: Überleben im KZ. In: Reinhold Gärtner / Fritz Kleinmann (Hg.): Doch der Hund will nicht krepieren… Tagebuchnotizen aus Auschwitz. Thaur: Kulturverlag 1995, S. 34–114.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.

White, Joseph Robert: IG Auschwitz: The Primacy of Racial Politics. Dissertation, University of Nebraska at Lincoln, NE, 2000.